Bei Windhundewetter am Dreispitz (1140 m)

Weil es heute auf den Bergen ungemütlich werden kann, habe ich mich für eine Eroberung des Nahen und nicht zu Hohen entschieden. Ich will im Süden der Bodenwies zwei von mir noch nicht besuchte Waldgipfel besteigen. Der Osten Oberösterreichs wartet auf das Eintreffen einer heftigen Föhnwetterlage. Die damit einhergehenden Sturmgeschwindigkeiten am Berg könnte ein Citroen 2 CV Tachometer gar nicht mehr anzeigen. Also ist ein wenig Vorsicht gefragt.

Vorboten der Sturmböen sind die hohen Temperaturen. Um 9:50 Uhr zeigt das Thermometer bereits ungewöhnliche zwölf Plusgrade an. Am Parkplatz treffe ich auf eine junge Frau mit einem Trinkrucksack am Rücken. Sie will den gesamten Dürrensteigkamm überqueren bis zum Almkogel, und dann hierher zurück laufen – und das in einem Stück. Ich habe dafür zwei Tage aufgewendet: Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben oder eine Biwaktnacht & zehn Gipfel am Dürrensteigkamm

Ich frage sie, ob sie weiß, worauf sie sich da einlässt. Das Gelände ist nicht einfach, die Dunkelheit kommt früh, es ist bereits sehr spät und es ist verdammt weit. „Ja, ja“ meint sie: „Ich kenne mich aus und versuche es einfach.“ Jetzt bleibt mir nur noch, der jungen Frau die Daumen zu drücken und ihr gutes Gelingen zu wünschen. Und weg ist sie.

Ich bin froh, nicht solch eine Gewalttour vor mir zu haben und laufen zu müssen.

Ganz gemütlich wandere ich los und erreiche bald schon mein erstes Ziel.

Obligatorisch und unverzichtbar: Bärenkogel (957 m).

Diesen „Gipfel“ wollte ich besuchen, weil Walter Stecher, der in dieser Gegend aufwuchs, in seinen Erinnerungen „Von Tal zu Tal“ schrieb:

„(…) einen Bergstock in der Hand, gingen wir meist noch weiter auf den Bärenkogel, ehemals die Reviergrenze meines Vaters. Hier gab es einen Bombentrichter, der sich schon teilweise mit Wasser gefüllt hatte und im Frühjahr Hochzeitsbühne für hunderte Frösche war, im Sommer für Libellen. Vor den Libellen warnte mich meine Mutter eindringlich: „Dass dich ja keine ins Auge sticht, sonst bist du blind.“ Das war ein alter, immer weitergetragener Aberglaube, denn Libellen besitzen gar keinen Stachel. Gegen Kriegsende hatten die Amerikaner von Italien aus Bombenangriffe auf die Stadt Steyr geflogen. Einige stürzten in dieser Gegend ab, einige am nahen Almkogel, wo mein Vater bei der Bergung von toten Piloten im Winter 1944/45 mitgeholfen hatte.“

Ich finde diese festgehaltenen Erinnerungen unendlich wertvoll. Denn wenn sie nicht niedergeschrieben werden, ist das Wissen um solche Begebenheiten, um den Alltag, die Hoffnungen und Befürchtungen unserer Großeltern und Urgroßeltern binnen zwei Generationen unwiederbringlich verloren.

Über die herrlichen, waldbegrenzten Weideflächen wandere ich weiter. Das Gras wirkt vorgartenmäßig gepflegt kurz auf mich. Ob das die Kühe allein zusammenbringen, oder waren da Schafmäuler auch im Spiel?

Der nahe Allesüberrager ist der Kühberg (1415 m).

Seit meiner Überschreitung (Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben oder eine Biwaktnacht & zehn Gipfel am Dürrensteigkamm: Teil 2) war ich dem Reiflingeck (1424 m), dem Ochsenkogel (1444 m) und der Langlackenmauer (1482 m) nicht mehr so nahe. Diese Gipfel und noch ein paar andere muss die junge Frau mit dem Trinkrucksack im Laufe des Tages „überlaufen“. Dabei sollte sie dem Tageslauf schon einige Meter abnehmen, weil ihr so spät im Jahr die Dunkelheit auch noch wie eine Geisterfahrerin entgegenkommt.

Über das graue Wiesenhaar dieser alten Kulturlandschaft biege ich in den Wald ein.

Unschwierig steige ich zum höchsten Punkt des Seekogels auf.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Seekogel (1062 m).

Die Westseite zeigt ihr steil abfallendes wildes Gesicht.

Über die Felsen auf ein Stück Forststraße hinbabblickend, weiß ich noch nicht, dass ich Mangels einer windstillen Alternative erst am Rückweg dort meine Jause essen werde.

Bereits jetzt erhebt sich über meinem Kopf ein bedrohliches Brausen und Rauschen. So hört sich der Verkehrslärm im zweiten Stock eines Hauses am Wiener Gürtel an – bei offenem Fenster.

Nach einem letzten Blick auf den viel besuchten Kühberg (1415 m) steige ich ab.

Dabei wandere ich wieder über einen großen Wiesenflecken mit einem meterlangen Pilzstrich und einer die persönliche Reputation rettenden Entdeckung: Man sollte hier keine peinlichen Spompanadeln veranstalten, denn auch dieser abgelegene Flecken…

…wird von einer Kamera überwacht. Wer will schon sein Foto beim Pinkeln oder gar Häufchen machen im Wirtshaus herumgezeigt wissen?

Danach schreite ich über einen gehörig ausgefahrenen Holzziehweg…

…zurück auf die Forststraße. Im Aufstieg wäre dieser Weg noch einfacher zu gehen, als der von mir gewählte.

Weiter geht’s auf der Forststraße in Richtung Bodenwies.

Nach einem Kilometer auf der Straße zögere ich nicht lange…

…und entscheide mich wieder für den Direktanstieg.

Mittlerweile hat der Wind mit seinem Sturmbesen den Himmel fast leergekehrt.

Die Sonne ist von novembermäßiger Gedämpftheit, und am…

…Bergrücken toben und branden wilderregte Luftwellen. Ich weiß nicht einmal, ob der Wind nun aufwärts oder abwärts bläst. Das ergibt eine wildmächtige tolle Stimmung, aber zu den unangenehmen Druckwellen im Ohr schleichen sich leichte Bedenken in mein Tun ein.

Ich wandere den Gipfelrücken entlang, um auf den unscheinbaren höchsten Punkt zu gelangen. In meinem Ringen mit den Naturgewalten fühle ich mich vom unerwarteten Vorhandensein der Zivilisation in Form dieser heraufziehenden Forststraße unangenehm überrascht. In meiner Kompass Wanderkarte ist die noch nicht eingezeichnet.

Ich kann die Angst der unter dem Wind stöhnenden Bäume regelrecht fühlen. Dieser Angreifer, den man nicht sehen kann, versetzt tausende Bäume, millionen Festmeter Holz zuerst in Aufregung und dann in Angst. Wer wird zuerst dem übermütigen Wind, diesem freigeistigen Landschaftsarchitekten nachgeben und brechen?

Mittlerweile wogen nicht nur die Bauwipfel, sondern auch die Gräser am Boden schwappen wie goldene Wellen hin und her.

Selbst das Stativ mit der Kamera widersteht nur für Sekunden, und ich benötige fünf Versuche für ein vollständiges Gipfelbild.

Wie die laute, grobe Unlieblingstante fährt mir der Sturmwind ins Haar und wuselt dort lästig herum. Trotzdem obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Dreizipf (1140 m).

Für ein paar wenige Gipfelfotos nehme ich mir trotzdem die Zeit.

Über der Buchsteingruppe türmen sich sturmfinstere Wolken. Die formen einen zerlumpten Himmel, ungemütlich wie eine billige Baumwolldecke, durch die der Wind bläst und die nicht wärmt.

Auf die Bodenwies würden mir mehr als eine Stunde Kammwanderung bei solchem Sturm bevorstehen. Dazu habe ich jetzt keine Lust. Mit dem Wind geht eine so große Unbequemheit des Wanderns einher, dass ich es gut sein lassen kann.

Ich steige direkt vom Gipfel am „Gratrand“ ab. Diesen Abstieg kann ich für den Aufstieg empfehlen. Hier ein Foto von der Forststraße zurück auf mein Abstiegsgelände. Auf der Forststraße zockle ich wieder gemütlich zurück und mache mir so meine Gedanken. Zum Beispiel, dass dem Ludwig Ganghofer der Titel seines Romanes „Das Schweigen im Walde“ bestimmt an einem sehr windstillen Tag eingefallen sein muss.

Durchgehend spannend dabei ist das akustische und optische Geschehen um mich herum. Einzelne Waldabschnitte sind wie von Geisterscheinwerfern ungewöhnlich hell, Licht durchsprenkelt,…

…als würde sogleich Mister Bean…

…oder Arnold Schwarzenegger im Lichtkegel aufschlagen.

Das Brandungsrauschen in den Baumwipfeln ist mir zum ständigen lauten Begleiter geworden. Erst im Windschatten des zuvor bestiegenen Seekogels (1062 m) finde ich zur Jausenruhe.

Und an noch einen Text mit Wäldern, die schweigen, erinnere ich mich dunkel. Den muss ich, wieder zu Hause, gleich nachlesen. Hier habe ich ihn am Ende dieses Tourenberichtes eingefügt, es ist ein wunderbares Gedicht von Erich Kästner.

An meinem Rastplatz ist es vogelzwitscherstill. Wohin hat der Windwüterich wohl die popcornleichten gefiederten Vogelkörperchen verblasen? Und werden sie auch wieder zurückfinden?

Man kann es nicht anders sagen: Es herrscht reinstes Windhundewetter:

Bildnutzung mit freundlicher Genehmigung von Josephine Mark (unbedingt ihre großartige Facebook Seite besuchen: Puvo Productions oder auf ihrer Homepage vorbei schauen: puvoproductions.com

Zuerst bin ich in Gedanken bei der Frage, ob ein weiblicher Windhund eine Windhündin oder eine Windhundhündin ist? und abgelenkt werde ich von diesen Überlegungen von Gedanken an die junge Bergläuferin. Wie weit wird sie wohl schon gekommen sein? Die Bodenwies müsste sie schon geschafft haben. Wieder zurück am Parkplatz, kann ich eine scheinbare Parallele zwischen ihr und mir feststellen. Nein, nicht die Fähigkeit, stundenlang über Berge zu laufen, die hat nur sie, aber beide dürften wir die Belebtheit von Dingen annehmen.

Im bewusst oder auch unbewusst praktizierten Animatismus werden unbelebte Dinge als lebendig angesehen. Sie können denken und handeln und haben Gefühle. Wer sein Auto so liebevoll gestaltet und personalisiert, sieht darin mehr als ein unbeseeltes mechanisches Fortbewegungsgerät.

Bei der Rückfahrt nach Kleinreifling halte ich am Klausbach und sehe mir dieses verfallene Ensemble an. Dem Geländer ist die Brücke abhanden gekommen, und mittendrin hat es eine Tanne bereits zum ausgewachsenen Christbaum geschafft.

Zerfall und Verlassenheit besitzen ihren ganz eigenen Zauber.

Im Anstieg etwa 460 Hm und zurückgelegte Entfernung nahezu 8,5 km.

Hier ein weniger bekanntes Gedicht von Erich Kästner:

Die Wälder schweigen

Die Jahreszeiten wandern durch die Wälder.
Man sieht es nicht. Man liest es nur im Blatt.
Die Jahreszeiten strolchen durch die Felder.
Man zählt die Tage. Und man zählt die Gelder.
Man sehnt sich fort aus dem Geschrei der Stadt.

Das Dächermeer schlägt ziegelrote Wellen.
Die Luft ist dick und wie aus grauem Tuch.
Man träumt von Äckern und von Pferdeställen.
Man träumt von grünen Teichen und Forellen.
Und möchte in die Stille zu Besuch.

Man flieht aus den Büros und den Fabriken.
Wohin, ist gleich! Die Erde ist ja rund!
Dort, wo die Gräser wie Bekannte nicken
und wo Spinnen seidne Strümpfe stricken,
wird man gesund.

Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.
Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden
und tauscht bei ihnen seine Seele um.
Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.
Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at


Darf’s ein bisserl mehr sein?

Weitere Unternehmungen in der Region Reichraminger Hintergebirge & Sengsengebirge (Auswahl):

Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.

Meine Quellen:

Ausschnitt aus Kompass Logo Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.

Die Bildbeschriftung erfolgte mit:
PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Ⓒ Christian Dellwo.

Heitzmann, Harant (1996): OÖ-Voralpen. OeAV-Führer, Ennsthaler Verlag, Steyr.

Stecher (2020): Von Tal zu Tal. Aufwachsen im Reichraminger Hintergebirge. Verlag Franz Steinmaßl, Grünbach.

Heitzmann, Harant (1999): Reichraminger Hintergebirge (Neuauflage) Ennsthaler Verlag, Steyr.

FIN