Hochtürnach (1770 m): №6 der Big Five in den Ybbstaler Alpen

Den vermutlich kauzigsten Gipfel der Ybbstaler Alpen möchte ich heute besuchen. Ob er ein schüchtener Introvertierter oder bloß ein griesgrämiger Eigenbrötler ist, kann ich nicht sagen. Dass mir diese Abseitigen jedoch die Liebsten sind, bei den Bergen und auch unter den Menschen, das weiß ich bestimmt. Und weil ich es mit der korrekten Einhaltung von Reihenfolgen nicht so habe, ist er auf meiner selbst definierten Big Five Liste die Nummer sechs.

Meine Big Five der Ybbstaler Alpen:

  1. Kräuterin mit dem Hochstadel (1919 m)
  2. Ötscher (1893 m)
  3. Dürrenstein (1878 m)
  4. Gamsstein mit dem Hochkogel (1774 m)
  5. Stumpfmauer (1770 m)
  6. Hochtürnach (1770 m)
  7. Hochkar (1808 m)
  8. Gr. Zellerhut (1639 m)
Entsprechend meiner ersten Veröffentlichung dieser Liste und den dazugehörigen Überlegungen repräsentiert in meiner afrikanischen Analogie das Nilpferd diesen Gipfel. Das liest sich dort so:
„In Afrika würden nach meiner Meinung auch das Nilpferd, die Giraffe und das Zebra dazugehören [Big Five]. Die wurden einfach nicht berücksichtigt. Ich bin da anders. Ich grenze niemanden nur wegen einer Zahl aus. Ich pfeife auf Obergrenzen. Sozusagen sind der Hochtürnach, das Hochkar und der Gr. Zellerhut das Nilpferd, die Giraffe und das Zebra der Ybbstaler Alpen. Bei mir sind sie dabei.“
Rotmoos ist vermutlich der verlassenste Flecken der Steiermark und heute der Ausgangspunkt meiner Wanderung. Den Mittelpunkt von Rotmoos bildet eine imponierende, jedes Haus überragende uralte Linde. Ein paar Häuschen, schiefe Holzstadel als Garagen, Dieselgestank, zwei große Pickups – das ist Rotmoos. Ich parke mein Auto am Straßenrand vor dem ersten Haus. Sehen kann ich niemanden. Irgendwo bellen Hunde.

In der feuchtkalten Morgenstimmung zittere ich mich vor die Linde für ein Startfoto.

Ein Nebellineal vermisst den Raum und begrenzt den Blick. Nur ahnen kann ich, was dahinter verborgen ist.

Nicht einmal das nahe Moor ist zu erkennen.

„Das Moor, welches dem Ort den Namen gab, liegt 0,5 km südwestlich der Ortschaft. Es ist als konvex-konzentrisches Hochmoor zu bezeichnen, da sich der Torf als gewölbter und ziemlich kreisrunder Hügel bis zu 5 m hoch über die Ebene erhebt (300 m Durchmesser, ca 8 ha groß).“ Tippelt/Baumgartner, Mariazeller Bergland.

Auf dem Google Satellitenbild ist es, freilich nebelfrei, gut auszumachen.

Bilder © 2017 Digital Globe Kartendaten © 2017 Google

Ich mag allerdings Nebellandschaften, und gerade darum gefällt es mir hier. Meine Aufmerksamkeit schenke ich den Nebeltränen an den Spinnengirlanden und…

…dem entrücktesten Holzmarterl der Welt…

Von diesem märchengleichen Anblick werde ich ganz und gar verzaubert.

Und auch der Blick ins Innere…

…berührt ganz behutsam den Teil in mir, der gerne glauben will.

Wenige Meter nach dieser religiösen Moos-Holz-Pretiose teilt sich die Forststraße. Ich nehme den linken Ast (nicht durchs Gatter wandern), und…

…an ihrem höchsten Punkt weist ein modriger Holzpfeil auf den unmarkierten Steig.

Ich folge dem Steig nur wenige Meter und halte auf der rechten Seite nach Steinmarkierungen Ausschau. Nicht ganz am Weg, wenige Meter entfernt, finde ich das gesuchte Steinmännchen und damit den Weg über den schottrigen Auslauf des Türnseegrabens. Auf der anderen Grabenseite…

…beginnt ein steiles Steiglein. Oft nur von drei zusammengelegten Steinen kenntlich gemacht.

Ich gelange zur Forststraße. Auf dieser wandere ich geschätzte dreihundertfünzig Meter, bis der Steig zum Türnsee beginnt. Mit angehäuften Zweigen ausgeschildert ausgeastet.

Steht man vor diesem Bach oder gar Quelle, ist man schon fünfzig Meter zu weit gegangen.

Der Aufstieg entpuppt sich als eine nassfeuchte Angelegenheit. Ist das der Morgentau oder noch der Regen, der vor Tagen hier gefallen ist?

Es riecht nach Mulm, Moder und dumpfiger Erde.

Der Steig führt mich durch eine verwachsene verwilderte Waldlandschaft. Nasse Feuchte liegt schwer auf den Bäumen und am Weg.

Bereits kurz vorm See quere ich diese Schuttriese. Zu Blättern verwandelte Sonnenstrahlen leuchten ferritgelb am dunklen Schuttstrom.

Der Wegteil vor dem See spürt sich dumpf an, ganz ohne die sonst dazugehörige Schwüle.

Die grüne Wand um mich scheint fugenlos zu sein, zumindest so lange, bis dieser Abzweiger auftaucht. Noch gehe ich geradeaus, und erst nach meinem Besuch am See kehre ich zu dieser Wegteilung zurück.

Und schon bald gelange ich ans Ufer dieses seins- und weltvergessenen Ortes mit dem Namen Türnsee (1230 m).

Ein Spiegel, eingeklemmt zwischen die steil abfallenden Felsen. Gesäumt von verkrüppelten Bäumen, ein wenig Krummholz und viel Moderholz. Ohne Zufluss. Ohne Abfluss. Nicht groß, zirka sechzig Meter lang und dreißig Meter breit.

Es gibt keine Spuren am See. Natürlich ist dieser See nicht unberührt, aber er sieht so aus.

Nach einem Foto vom See und mir (ungewohnt weißborstig im Gesicht) kehre ich zur Wegteilung zurück. Auf noch schwächeren Pfadspuren dringe ich weiter in die Landschaft ein.

Ein zunehmend vergrünender Schutthang verbindet den Talgrund mit der oben hochragenden Felsenbarriere.

Auch hier darf ich mich nicht von Wildspuren ablenken lassen. Steinmännchen sind die einzigen Orientierungshilfen.

Dabei benötigte ich bei diesem Aufstieg nirgends die Hände, der schmale Steig ist immer wanderbar. „Da halfen besser die Bein‘ als Hände“ (Shakespeare König Heinrich VI).

Ich gelange endlich aus den Mauern heraus auf die langgezogene, verbuckelte und zunehmend verwachsende Mitterhalt (ehemaliges Almgelände). Wie minimalinvasiv der Weg durch die Landschaft verläuft, ist auf diesem Bild gut zu erkennen. Zu den Steinen am Holzstamm führt der Pfad.

Immer nach Wegindizien Ausschau haltend, oftmals am Weg, manchmal daneben, durchwandere ich diese entrückte Landschaft. Die einen sagen wild, die anderen sagen romantisch, man könnte auch wildromantisch zu diesem Berggebiet sagen.

Ausblicke werden mir keine gewährt, und durch diese Ausschließlichkeit und Nähe der menschenleeren Natur steigen robinsonadische Gefühle in mir hoch.

Die Verwunderung, doch jemanden anzutreffen, gilt für beide Seiten.

Mein erster Ausblick zeigt mir auch gleich den Gipfel. Das schaut jetzt unecht weit aus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde mich das jetzt abschrecken. Die beiden Latschenmugeln im Vordergrund werden umgangen,…

…und danach sieht die Angelegenheit schon gleich viel besser (weil näher) aus.

Die Pfadspuren leiten zum großen Latschenfeld links vorm Gipfel. Hier muss ich besonders achtgeben. Die Steine am Bild sind der einzige Hinweis auf den Beginn der Latschengasse. Da könnte man auch leicht vorbei laufen.

Ein Gipfelsporn hoch über dem Salzachtal

Ein schmales, ausgesetztes Gratstück verbindet den Gipfel mit seinem Berg. Mit schnellen Schritten überwinde ich diese Stelle. Dem Fallen davonlaufen ist meine Taktik.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Hochtürnach (1770 m). Ich stehe nicht zum ersten Mal auf diesem Gipfel. Bereits im Oktober Zweitausendsechs war ich mit Reinhard schon einmal hier. Bei wesentlich bunteren und weitsichtigeren Verhältnissen. Bilder dieser Wanderung finden sich ganz am Schluss dieses Blogeintrags, im Epilog.

Mir bietet sich ein archaischer Anblick. Von einer tief hängenden Was-auch-immer-Decke wird der Hochschwab verdaut.

Viele klatschen sich große Fernseher mit unerhörten Zentimeterdiagonalen an die Wohnzimmerwand und meinen damit ein Fenster zur Welt zu besitzen. Das ist lächerlich, das sind mickrige Handybildschirme, das ist Daumenkino gegen meinen Jausenausblick hier. Meine Aussicht am Gipfel wird in Meterdiagonalen, wenn nicht sogar in Kilometerdiagonalen, gemessen.

Gipfelsitzen an der Grenze zur Stille…

…und eines Abgrunds. Unter mir die Salza mit dem einmündenden Antengraben und der kleinen Siedlung Gschöder.

Die ebenfalls sehr einsame Riegerin (1939 m) im Zoom. Vor vielen Jahren habe ich sie mit meinem Vater, über die Viererscharte, bestiegen.

Der Kräuterinzug mit der höchsten Erhebung der Ybbstaler Alpen, dem Hochstadl (1919 m). Weil der Weg auf den Hochstadl zu Gabis Lieblingstouren zählt, werden wir ihn hoffentlich nächstes Jahr wieder einmal gehen.

Der grauschmutzige Gruftdeckl endet irgendwo im Norden weit hinter dem Ötscher und den Zellerhüten. Darunter schmale kaltgraue Täler.

Zum Abschied versuche ich in das Wolkengebräu zu grapschen. Nur wenige (gefühlte) Zentimeter fehlen dazu.

Vom Bergfexl Jochen Kramer gibt es fantastische Drohenaufnahmen vom Gipfel.

https://www.youtube.com/watch?v=YrAo9fxpgtM

Der Abstieg zum schmalen Grat weckt meinen müden Geist.

Jetzt überquere ich diesen schmalen Sims ganz langsam, und in seiner Mitte mache dieses Foto. Der Name Hochtürnach kommt von seinen Türmen und Türmchen über dem Salzatal. Eine vom Wetter und seinen Wassern völlig zerschossene Szenerie.

Ich wandere am Aufstiegsweg zurück.

Ein letzter Blick zurück,…

…und schon bin ich wieder auf der Mitterhalt. Auch am Rückweg verschlampe ich den Weg immer wieder.

Aber es ist auch nicht verwunderlich. Vom ersten Schnee gebeugtes Gras und querulierende Wildspuren lassen mich immer wieder vom Pfad kommen.

Wirklich, wirklich wichtig ist, sich zu merken, wo der Abstieg durch die Mäuer führt. Man darf sich nicht durch Wildspuren daran vorbei locken lassen.

Es gibt nicht viel Literatur zu dieser Tour. Darum möchte ich vor allem Bernhard Baumgartner und Werner Tippelt danken, nicht nur für die ausführliche Beschreibung dieser Wanderung, sondern auch für die vielen anderen Tourenempfehlungen in den Ybbstaler und Mariazeller Bergen. Gäbe es deren Bücher nicht, wären viele Wanderungen oder gar ganze Gegenden in Vergessenheit geraten. Aber auch Liselotte Buchenauer hat bereits 1976 über diesen menschenleeren Landstrich berichtet: „Der Kräuterin südöstlich vorgelagert ist das Hochtürnach (1771 m), mit breiter und steiler Wandflucht gegen das Salzatal abbrechend und über den Bärenbachsattel (1296 m) mit ihr verbunden. Mitten in dem „Getürme“, denn das bedeutet der bildhafte Bergname, liegt felsumschlossen düster der kleine Türnsee. Das Hochtürnach ist noch einsamer als die Kräuterin, und wer dort hinauffinden will, muß außer besonderem Spürsinn auch noch großes Bergglück haben (und darf keinem Jäger begegnen!).“

Danken möchte ich auch den „Eltern“ der vielen hilfsbereiten Steinmännchen am Weg. Echte Pfadfindersteinmännchen sind das. Diese abervielen Steinsignale, diese Steinbojen im Waldmeer, sind für mich die eigentlichen Helden dieser Wanderung.

Bald schon nach diesem umgekippten Kirchturm, dem jetzt die Glocken heraushängen, gelange ich zum nächsten Mirakel dieser Tour.

Den Ausklang dieser herzlastigen Wanderung krönt mein seltener Schnappschuss eines scheuen Waldschnörkelchens (lat. Silvacalamistrum). Wie sein Aussehen leicht erraten lässt, ist es ganz eng mit dem Ringelnass (Seepferdchen lat. Hippocampus) verwandt.

„Alle Tage sind gleich lang, jedoch verschieden breit“ sang einmal Udo Lindenberg. Dieser Erkenntnis möchte ich mich nach der heutigen Tour gerne anschließen. Und ich wünsche mir noch mehr solch breite Tourentage wie diesen.

Bei der Heimfahrt mache ich noch dieses Foto von den Felsabbrüchen und dem Hochtürnach.

Im Anstieg ca. 1100 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 14 km.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at


Darf’s ein bisserl mehr sein?

Weitere Unternehmungen in der Region Ybbstaler Alpen (Auswahl):

Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.

Meine Quellen:

Ausschnitt aus Kompass Logo Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.

Die Bildbeschriftung erfolgte mit: PanoLab  Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Version: 1.0.3  © Christian Dellwo.

„Dem Fallen davonlaufen“ habe ich mir von Daniel Kehlmann ausgeborgt.

Tippelt/Baumgartner (1985): Mariazeller Bergland, Ein Wander und Landschaftsführer. Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten.

Steffan/Tippelt (1977): Ybbstaler Alpen. AV-Führer, Bergverlag Rother, München.

Buchenauer (1976): Bergwandern in der Steiermark. Tyrolia Verlag, Innsbruck.

Baumgartner/Tippelt (2013): Wandererlebnis Ötscher, Ybbstaler Alpen. Kral Verlag, Berndorf.

EPILOG

Am 22.Oktober 2006 habe ich mit Reinhard den Hochtürnach bereits einmal bestiegen.

Der Nebel dürfte über dem Hochmoor in Rotmoos seinen ständigen Wohnsitz haben.

Eng nebeneinander, wie Buntstifte in der metallenen Jolly-Box stehen die Bäume am Steilhang.

Noch ist mein Lieblingsmarterl nicht völlig umwuchert. Ziemlich frei stehend glänzt es im Wald.

Dort oben, an der Baumgrenze, liegt irgendwo der Türnsee.

Wir wandern nicht ans Seeufer – warum auch immer.

Auf der Mitterhalt.

Gute Laune ist eine beständige Begleiterin meiner Bergtouren. Es sei denn, ich bin schon völlig müde, total hungrig oder mir ist kalt, ich bin durstig oder es ist besonders steil oder ich habe mich verirrt…

Jetzt lasse ich mich von der vermeintlichen Entfernung des Gipfels noch entmutigen.

Reinhard am schmalen Band zum Gipfel.

Ich kann mich fast noch hinter einem Grashalm verstecken.

Unsere Aussicht ist gut.

Am Ringkamp (2153 m) war ich noch nicht, der befindet sich auch schon sehr lange in meiner Gipfelvorratsdose.

Doch durfte ich an einem herrlichen  Herbsttag den Hochschwab, Zagelkogel und den G’hacktkogel besteigen: Hochschwab (2277 m) klassisch übers G’hackte

Den Abstieg gehen wir wiederum wie den Aufstieg. Ich habe eine Riesenfreude mit dieser Tour.

F I N