Ist mehr Rofan auch genug Rofan ?

An unserem zweiten Tag in Pertisau sitzen wir wiederum frühmorgens am Balkon, hoch über dem glitzernden Achensee. Kitschfreie Fotos sind gegenwärtig einfach unmöglich, zumindest so lange, bis Gabi ein Foto von meinem Morgengesicht  macht. Auf diese respektlose Weise, von einem anstürmenden Schönheitskoller bewahrt, packe ich, den Blick in den Hotelzimmerspiegel meidend, meinen Rucksack.

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Gleich ums Balkoneck ist heute großer Flug-Motivationstag. Das Jahr ist schon weit, und das Brutgeschäft endet diese Tage mit dem Ausflug der Nestlinge. Im Schwebeflug hält die Schwalbenverwandschaft vorm Nest und fordert den Nachwuchs lautstark zwitschernd auf, aus den Nest zu kommen.

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Auch wir fliegen heute nochmals aus. Wenig spektakulär sehen unsere ersten Gipfelziele von der Achenseeseite aus. Wir werden uns allerdings, mit Respekt, von der felsigen Ostseite nähern. In der geplanten Gehrichtung von rechts nach links: Rotspitze (2067 m), Dalfazer Roßkopf (2143 m) und die Dalfazer Wand (2210 m).

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Wir fahren in der übervollen Gondel hoch. Wieder ist mir von der kaputtgeatmeten Luft in der engen Büchse fast schwindlig. So weit, so alltäglich. Allerdings wenden wir uns diesmal den Dalfazer Wänden zu. Die wollen wir überschreiten. Das trauen wir uns jetzt einfach zu. Von der Ostseite sehen die nämlich so aus. Die Köpfln werden wir auslassen, aber sonst hoffen wir schon überall oben zu stehen.

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Der touristisch geopferte Gschöllkopf (2039 m) mit seiner „Flugeinrichtung“.

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Wir beginnen unsere Wanderung mit einem Abstieg, zum grünen Auge unterhalb des Gschöllkopfs.

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Viele Menschen sind in der Morgenhitze unterwegs. Alle, die uns bis zum See begleiten, wollen weiter zum Durrakreuz und zur Dalfaz Alm. Wir aber suchen und finden hinter dem See einen unmarkierten Steig, der uns zur Rotspitze bringen soll.

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Der Steig fädelt sich mit uns durch schulterhohe Latschen…,

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…an Lärchen, Bergahornen und Zirbelkiefern vorbei, ins Kar vor die Rotspitze.

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Als hätte man ein Rudel Kirchtürme mit besonders hellen Glocken in die Westseite des Gschöllkopfs getrieben, so ungewöhnlich laut ist das Kuhglockengeläute, das unsere Ohren schalltechnisch herwatscht.

Wir gelangen zu einer Wegteilung. Gerade aus geht es in die lange Gasse und links zur Rotspitze.

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Das Kar weitet sich in Richtung Norden, entlang der Dalfazer Wände bis zur Hochiss (2299 m).

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Wir können beim Anblick der Ostwände den Weiterweg nicht erahnen. Ein kurze Kletterstelle wartet auf uns, aber wo? Beim Holzstamm (im Bild) teilt sich der Weg nochmals. Wir weichen links aus, und das ist halbfalsch. Diese Entscheidung bringt uns…

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…in eine steile, rutschige, nassfeuchte, ungesicherte Rinne. Sehr unangenehm, aber gerade noch überwindbar. Der rechte Pfad hätte in die abgesicherte Einschartung geführt. Aber das war’s dann auch schon.

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Wir befinden uns zwischen Latschen am Grat vor der kirchturmartigen Rotspitze…

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…und hoch über dem Achensee.

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Ein schmaler Steig schlängelt sich durch Latschen und über Abbrüche…

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…am „gesicherten“ Aufstieg vorbei in die…

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…Westseite der Rotspitze. Wir beobachten Kletterer in der Südwand.

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Wie grausteinige Orgelpfeifen spitzen sich die Karwendelgipfel in die Höhe.

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Für wenige Meter werden wir zu Fassadenkletterern. Wie die „Katze“ in dem Hitchcock-Klassiker „Über den Dächern von Nizza“ klettert Gabi einen schmalen Steinsims über den Wellen vom Achensee entlang. Nur so gelangen wir…

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…zum markierten Aufstieg, welcher vom Durrakreuz hochzieht.

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Steil, entlang einer ausgeschnittenen Latschengasse wandern wir hoch. Im Hintergrund ist bereits der Dalfazer Roßkopf zu sehen. Immer ausgesetzter und schmäler wird der Anstieg, bis er über eine Geländekante…

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…wenige Meter abwärts führt und anschließend spindeldürr und ein wenig ausgesetzt zum Gipfel hoch leitet. Diese Stellen sind jetzt nicht schwierig, aber für unsichere Wanderer doch eine echte Hürde.

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Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Rotspitze (2067 m).

Wir teilen uns ein und den selben Quadratmeter. Unsere Hinterteile ragen weit ins Blaue hinaus. Wie sagt schon die Ehefrau des Sumoringers: „Du kannst nich beides haben, einen dicken Mann und Platz im Bett“.

Diesen schmalen Gipfel, eine fantastische Aussicht und unsere Schokoriegel teilen wir  mit tausenden Ameisen am höchsten Punkt.

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Achenkirch mit seinen unzähligen Wanderaufforderungen.

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Unser Weiterweg mit dem Dalfazer Roßkopf ganz links, daneben die Dalfazer Wand und ganz rechts die Hochiss.

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Wenige Meter gehen wir am Anstiegsweg zurück, bis zum Beginn der Latschengassenabzweigung, die uns zum Roßkopf leiten wird. Unter uns die Dalfaz Alm und darüber das Klobenjoch (2041 m).

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So spitz ist die Rotspitze tatsächlich.

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Wiesen überdecken die Schrofen wie dämpfende, lappige Teppiche, und kniegeschont erreichen wir…

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…den zweiten Gipfel.

Obligatorisch und unverzichtet: Gipfelflirt Dalfazer Roßkopf (2143 m). In der Sonne braten einmal wörtlich genommen.

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Hier haben wir jetzt viel mehr Platz, und somit pausieren wir etwas länger. Links im Bild die Erfurter Hütte, dahinter das Ebner Joch (1957 m) und wieder die Rotspitze.

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Im Inntal ist Jenbach zu sehen. Mit einem Hummelsummen brummt sich ein kleines Flugzeug hoch.

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Unser Weiterweg führt nicht ganz an die Spitze der Dalfazer Wand, dafür wird eine kurze Fleißaufgabe meinerseits erforderlich sein.

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Beim Blick übers Rofanplateau können wir sogar die gestern besuchten Gipfel erkennen. Den Sagzahn (2228 m) und das Vordere Sonnwendjoch (2224 m) rechts der Bildmitte.

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Heute ist ja ein besonderer Tag in Scharnitz und Pertisau. Es trifft sich wieder der Fitnessadel um den Karwendelmarsch zu bestreiten. Mannigfaltig sind die Gegner der Teilnehmer:

  • innerer Schweinehund
  • Trainingsrückstand
  • falscher Ehrgeiz
  • Hitze (30 °)
  • Durst
  • 2300 Höhenmeter
  • 52 Kilometer
  • 2500 Teilnehmer aus 26 Nationen

Konditionsgroßkaliber sind alle, die überhaupt durchkommen, und der Held der Evolution stellt an diesem heißen Tag sogar einen Streckenrekord auf. Er erreicht bereits nach 4:11:26 Stunden das Ziel. Einfach unglaublich. Konrad Lex heißt der Wunderwuzzi.

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Gabi und ich zählen ja zum Genussadel, und darum freuen wir uns, im Gras liegend, über den Tiefblick zum See.

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Am Weiterweg werden wir von einem fast senkrechten Abstieg überrascht. Gabi hat ihren resoluten Tag, und bevor ich noch bei ihr bin, hat sie ihre Stecken verstaut und verschwindet wegabwärts.

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Der Abstieg gestaltet sich viel einfacher, als die Fotos vermuten lassen. Stolpern darf ich allerdings nicht, sonst würde ich den beiden am Wanderweg Rastenden auf die verschwitzten Köpfe fallen.

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Die Gelbe Wand in der Rückschau. Die Markierungen weisen den Weg – dieser ist durchgehend mit Trittangeln und einem Seil entschärft.

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Unglaublich, diese Wand sind wir soeben abgeklettert. Einer der beiden zuvor wartenden Wanderer steigt gerade auf.

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Der Weiterweg quert die Wiesenplan der Dalfazer Wand und führt nicht zum höchsten Punkt. Mit einer Minifleißaufgabe stehe ich nach wenigen Minuten auf der Dalfazer Wand (2210 m). Der Blick zurück geht bis zum Turm der Rotspitze, und darunter blinkert der Achensee in der Sonne.

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Vor mir das Dalfazer Joch und die Hochiss.

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Die Hitze hat mittlerweile den großen Prügel ausgepackt und bearbeitet uns kräftig damit. Wir gelangen zu den schuttrigen Türmen der Dalfazer Köpfln (Steinrigen Mandln).

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Ich verzichte auf einen Besteigungsversuch. Den Turm mit dem Kreuz könnte man in einer kurzen (mittelschwierigen) Kletterei besteigen.

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Auf den nächsten Gipfel steigen wir schon wieder. Hier sind nicht die Kletterstellen (gibt es keine), sondern das Umgehen der Schafhinterlassenschaften die einzigen Schwierigkeiten.

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Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Dalfazjoch 2233.

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Das Rofan ist kein Gebirge, sondern mehr ein Gefühl.

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Blick zum Streichkopfgatterl und dem Roten Klamml. Exakt in der Bildmitte werden wir unseren steilen Abstieg beginnen.

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Links die Unnützen (2075 m) und rechts die Guffertspitze (2195 m).

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Viele Wanderer können wir jetzt sehen. Diesen Anstieg von der Dalfaz Alm sind wir bei unserer Hochissbesteigung vor zwei Jahren ebenfall schon gewandert. Herrlich wars.

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Blick zurück zum Dalfazer Joch (2233 m).

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Den Weiterweg ins Streichkopfgatterl und zum Roten Klamml gehen wir nicht mehr,…

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…denn diesmal wollen wir nicht weiter zur Hochiss. Wir steigen den steilen Hang direkt in die Lange Gasse ab. Nur weil es so trocken ist, wagen wir uns in den schroffen Wiesenhang.

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Wir peilen den linken Einschnitt an, dort glauben wir Wegspuren erkennen zu können.

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Blick zurück aufs Abstiegsgelände.

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Die Tour hört nicht auf, außergewöhnlich schön zu sein. Tatsächlich finden sich in der Langen Gasse zumindest Steigindizien.

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Das gefällt uns jetzt ausnehmend gut. Wieder ein Blick zurück. Riesige, helle, hoch aufragende Steinplatten…

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…verengen den Taleinschnitt. Grandios ist es hier.

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Die Dalfazer Wände von „unten“.

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Steinerieseln verrät dieses riesige Gamsrudel.

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Wir suchen nach dem engen Taleinschnitt links (östlich) einen Weg durch den dichten Latschengürtel. Weil sich weder ein Pfad noch Trittspuren finden, weichen wir darum wieder an den Fuß der Wände zurück und wandern diese entlang,…

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…bis wir wieder auf den heute schon einmal begangenen Weg stoßen.

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Wieder zurück beim grünen Auge finden Gabi und ich, dass unsere sowieso schon überzogenen Erwartungen wieder einmal übertroffen wurden.

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Viel vorsichtiger als noch gestern (Liebesmaschine) verläuft meine Begegnung mit den jungen Kühen am Speichersee.

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Inmitten anderer ausgelassen musizierender, bedingungsloser Rofangutfinder fühlen wir uns verstanden und wohl geborgen. Dieserhalb und desterwegen sind wir bestens gelaunt und …

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…erliegen dem dekatenten Hang zum Zweitgetränk (Drittgetränk, Viertgetränk) bis zur letzten Gondel.

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Die Titelfrage dieses Blogeintrags muss nach dieser Wanderung klar verneint werden. So lange Gipfel im Rofan von Gabi und mir noch nicht bestiegen wurden, kann es kein „genug Rofan“ in unserem Leben geben. Farewell Rofan! Wir kommen wieder.

Im Anstieg ca. 700 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 7,8 km.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at


Darf’s ein bisserl mehr sein?

Weitere Unternehmungen in der Region Rofangebirge (Auswahl):

Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.

Meine Quellen:

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Unsere gesammelten (blauen) Wanderspuren im Rofan:

Rofangesamt

Leider hat die Kompass Karte einen kleinen Fehler, und die Gipfelbezeichnungen im Hauptkamm des Rofans sind nur halb zu lesen.

Ausschnitt aus Kompass Logo Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.

Röder/Schmid (1975): Rofangebirge. AV-Führer. Bergverlag Rudolf Rother, München.

Wutscher (2013): Achensee. Wanderführer, Bergverlag Rother, München.

Zahel (2006): Die schönsten Gipfelziele zwischen Bodensee und Wien. Verlag Bruckmann, München.

Zahel (2008): Bergseen die 70 schönsten Wandertouren in den Ostalpen. Verlag Bruckmann, München.

Bildbeschriftung erfolgte mit:

PanoLab  Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Version:  v 1.0.2    © 2007 Christian Dellwo.