Masada מצדה (59 m)

Weil welthistorische Ereignisse einen weiten Bogen um meine Heimatstadt gemacht haben, muss ich gelegentlich der Ausländerei huldigen, und mich an Orte begeben, wo die Historie auch einmal angehalten hat. Anlässlich des heranrauschenden Weihnachtsfestes kann ich mich nicht davon abhalten, von einer Seilbahnbesteigung zu erzählen, die mich auf diesen blut- und geschichtstrunkenen Berg, dieses bergliche Weltkulturerbe nahe Bethlehem, geführt hat.

Eine zehntägige Israelreise führt uns auch an den allerseltsamsten Ort: das Ufer des Toten Meeres und…

…in seine Fluten. Über die Tragfähigkeit des Meeres habe ich ja schon viel gelesen, doch diesen Auftrieb am eigenen Körper zu spüren, ist noch einmal etwas ganz anderes. Von einem Meer auf Händen getragen und hochgehoben zu werden, fühlt sich  grandios lustig an. Denn gerade einmal unsere verlängerten Rücken können wir versenken, der große Rest bleibt über Wasser. Wir sind weniger im Meer gewesen, als wir darauf gesessen und gelegen haben. Davon will ich aber gar nicht berichten.

Erzählen will ich von den westlich des Toten Meeres aufragenden Felsen der Judäischen Wüste, in denen sogar Nubische Steinböcke heimisch sind.

Besonders einem dieser Felsen gilt unsere Aufmerksamkeit. Nein, es ist nicht…

…Qumran mit den Schriftrollen, das befindet sich zwar auch in der Nähe, unsere Neugier gilt jedoch der tiefstgelegenen Seilbahn der Welt und dem für das israelische Selbstverständnis so bedeutende Masada.

Neben dem geschichtlichen Interesse an Masada stelle ich mir vor, einen Gipfel in meine Gipfelliste aufnehmen zu können, dessen Höhenangabe mit einem Minuszeichen versehen ist:

  • einen Minushöhenberggipfel
  • einen Untenberggipfel
  • einen Negativgipfel
  • einen Subtraktionsgipfel
  • einen Wenigergipfel
  • ein geologisches Oxymoron

Oxymoron nennt man sich selbst widersprechende Worte und Begriffe, wie zum Beispiel:  Busbahnhof, Frauenmannschaft, Minuswachstum, Wahlpflichtfach, Ausnahmeregel, Feuerwasser, Trockeneis, Hallenfreibad, Fruchtfleisch usw. Leser meines Blogs wissen, dass ich solche Spielereien liebe, und so ein Gipfel wäre schon eine besondere Zierde und Flitter für meine Gipfelliste. Das würde mir gefallen.

Schade und verflixt, daraus wird leider nichts. Die Topologie ist gegen mich. Ganze 59 Meter ist der Berg zu hoch, und dennoch gibt es eine Seilbahn auf seinen gestumpften Gipfel.

Die Seilbahn führt von der 257 Meter unter dem Meeresspiegel gelegenen Talstation auf die schon über Meeresniveau befindliche Bergstation auf 33 Meter.

Das Gipfelplateau liegt 59 Meter über dem Meer. Zwar liegt der tiefste Punkt am Toten Meer 413 Meter unter dem Meeresspiegel, aber Masada ragt darüber hinaus.

Die Israelis sind besonders technologieaffin, und in vielen Bereichen gehören ihre Forscher und Ingenieure zur Weltspitze, diese Seilbahn hat dennoch ein schweizer Unternehmen geplant und errichtet. Die Eidgenossen können das neben uns Österreichern einfach am besten, weil sich aus den länderspezifischen Gegebenheiten ganz natürlich entsprechende Kompetenzen entwickeln. Tunnelbohren gehört auch dazu.

Mein ursprünglicher Plan war ja, über den „Snake Path“ aufzusteigen. Schon vor zweitausend Jahren existierte dieser Weg auf das Plateau, und schon zu dieser Zeit wurde er Schlangenpfad genannt. (Flavius Josephus) Heiße 2,5 km und 350 Höhenmeter gilt es zu überwinden. Weil wir jedoch in einer netten Reisegruppe samt Reiseführer mit Zeitplan unterwegs sind, gelingt es mir nicht, aus der Herde auszuscheren.

In der Draufschau rede ich mir ein, dass der Schlangenpfad mit seinen Trödelameisen (es wandern Touristen, Militärs, Pfadfinder und Eltern, die ihre Kinder beim Pfadfindern begleiten) jetzt gar nicht so verlockend aussieht, und der geländerbewehrte…

…Betonpfad lässt mich tatsächlich das Versäumnis und den damit verbundenen „Verlust“ als eher gering erachten.

Irgendwie hat man ständig das Gefühl, dieses Land bewahrt Zeit. Hier vergeht sie langsamer. Hitze und Trockenheit versteinern den Zeitfluss. Auf diesem Bild sind vor der Talstation der Seilbahn die zweitausend Jahre alten Umfassungen der Römerlager und lange Reste der Belagerungsmauer gut zu erkennen.

Von der Bergstation wandern wir die letzten Meter des Schlangenpfades auf das riesige Plateau und begeben uns auf den höchsten Punkt. Ein Tiefblick lässt uns auf den dreistöckigen Nordpalast des Herodes hinunterschauen. Von hier geht der Blick an klaren Tagen bis nach Jericho.

Coram puplico ein Gipfelfoto machen, ist mir ein wenig unangenehm. Aber die Rundumstehenden wissen ja nicht von diesem Alpinen-Monsieur-Peter-Brauch. Obwohl nur seilbahnbestiegen, verzichte ich trotzdem nicht darauf: Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Masada (59 m).

Weil es so heiß ist, halten sich nicht einmal Schweißschatten auf meinem T-Shirt. Die trockene Luft holt sich jeden Tropfen.

Ich kann mich nicht entscheiden, ist jetzt die Aussicht die Hauptattraktion dieses  Felsens, oder sind es die geschichtlichen Ereignisse. Mein Kopf beginnt fesselndes, religionshistorisches Garn zu spinnen: Auf der anderen Seite des Toten Meeres liegt Jordanien, und man sieht die Ausläufer des Gebirges Abǎrim mit dem Berg Nebo, jenen Berg, von dem aus Moses das gelobte Land sehen durfte, aber sterben musste, ohne es selbst betreten zu haben. Auch Sodom und Gomorrha (gerne hätte ich dort eine Nacht verbracht) wird irgendwo an den Ufern des Toten Meeres vermutet. Viele Geschehnisse, welche in den abrahamitschen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) eine Rolle spielen und in deren heiligen Büchern niedergeschrieben sind, (Bibel, Koran, Tanach) sollen sich hier oder zumindest ganz in der Nähe zugetragen haben.

Unter der Hitze sieht die Landschaft kreidig aus und ähnelt auch einem riesigen japanischen Zen-Garten. Ihre Harmonie erreicht sie im Weglassen. Die Judäische Wüste ist eine Halbwüste. Sie liegt zwischen dem Toten Meer und Jerusalem und reicht bis zum nordöstlichen Negev. Zahlreiche Wadis durchschneiden sie von West nach Ost, die bis zu 600 Meter tief sind.

Das ist die landschaftgewordene Entsagung.

Ingeborg Bachmann schrieb einmal, sie möchte nur an Orten sein, „wo was gewesen ist“. Masada ist ganz bestimmt so ein Ort.

Es diente den Juden im ersten Aufstand gegen Rom als letzter Zufluchtsort und gilt heute als Symbol für die Freiheit aller Juden. Drei Jahre (70 – 73 n. Chr.) trotzten knapp tausend Zeloten 15.000 römischen Legionären. Als die Festung nicht mehr gehalten werden konnte, wählten sie mit allen Frauen und Kindern den (Frei)tod. Alle israelischen Soldaten leisten seitdem ihren Fahneneid mit den Worten „Masada darf nie wieder fallen“.

Ob jetzt Frauen und vor allem Kinder den Tod selber wählten, daran habe ich meine begründeten Zweifel. Es gab auch sieben Überlebende dieses Massakers. Zwei Frauen mit fünf Kindern versteckten sich, um nicht in den freiwilligen Tod gehen zu müssen. Deren Schilderung der Geschehnisse hat Flavius Josephus in seinem spannenden antiken Klassiker „Der Judäische Krieg“ festgehalten. In diesem Buch schildert Flavius Josephus die Geschehnisse vor der Erstürmung und vor allem die fürchterlich großartige Rede Eleazars an die Aufständischen, mit der Aufforderung zu Mord und Selbstmord, die darin endete, dass sich die Zeloten daran machten, aus Furcht vor Sklaverei ihre Frauen und Kinder zu töten:

„(…) ein solch gieriges Verlangen hatte sich ihrer bemächtigt, ihre Frauen und Kinder sowie sich selbst untereinander zu morden. Auch erkaltete, wie man vielleicht hätte meinen können, ihr Eifer nicht, als sie zur Ausführung schritten, sondern sie beharrten bei dem Entschluß, den sie während Eleazars Rede gefaßt hatten. Obgleich in ihnen freund- und verwandschaftliche Gefühle lebendig waren, überwog die Vernunft, die ihnen sagte, daß sie so am besten für ihre Liebe sorgten. So setzten sie, indem sie ihre Frauen liebevoll umarmten, ihre Kinder herzten und sie unter Tränen zum letztenmal küßten, ihren Entschluß ins Werk, als stände ihnen eine fremde Hand zu Gebot.“

Zwischen Skeletten und verkohlten Habseligkeiten fanden die Archäologen noch elf Tonscherben mit Namen der Belagerten – mutmaßlich die Lose, mit denen die letzten Männer (so der Bericht des Josephus) unter sich ausgemacht hatten, welcher von ihnen die letzten zehn und dann sich selbst zu töten habe.

Die Sonne brennt in unbenennbarer Wattstärke auf dieses Land. Der Lakonismus der felsenen Landschaft setzt sich im Westen fort. Irgendwo im rechten Bildteil, fast schon hinter dem Horizont, liegt Jerusalem.

Blick in den Südwesten. Die Wüste Negev ist ganz nah.

Der römische General Flavius Silva ließ von Gefangenen und Sklaven diese Angriffsrampe aufschütten, über die Silva mit 9000 Legionären und einem gepanzerten Rammbock die Festung stürmte.

Von den erinnerten Ereignissen seelisch durchgebeutelt, von der Sonne ausgedörrt und der Landschaft überwältigt, verlassen wir diesen schicksalsverfallenen Ort, um einen anderen „Hotspot“ der Menschheitsgeschichte…

…eigenäugig zu betrachten. Das ist jedoch eine ganz andere Geschichte, die ihren Weg in meinen Wanderblog nicht finden wird.

Das Gewaltigste unter der Sonne ist das Vorübergehende.

Botho Strauss „Lichter des Toren“.

Nachgetragen:

In Tel Aviv findet sich ein Lebensmotto plakatiert, dem auch Monsieur Peter sehr viel abgewinnen kann.

Und in Jerusalem kann besonders der österreichische Weitwanderer zwischen zwei sehr ambitionierten Zielen wählen.

Im Anstieg etwa 26 Hm und zurückgelegte Entfernung nahezu 1,5 km.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at

Meine Quellen:

Wikipedia: Masada

Im Spiegel (3.3.1967): Das Los der Letzten

Hikr.org: Dreihundert Meter Aufstieg und doch nur auf Meereshöhe