Wir haben in Innervillgraten Quartier bezogen, um unsere Kennerschaft vom schönen Osttirol nachzubessern. Jedoch befindet sich unser heutiger Wunschberggipfel gar nicht in Osttirol, sondern mehr in Kärnten und eigentlich stimmt das auch nur halb – denn noch eigentlicher ist er ein Italiener in den Karnischen Alpen.
Vor St. Lorenzen im Lesachtal (noch vor der Radegunder Brücke) zweigt die Zufahrtsstraße zur hoch gelegenen Ingridhütte (1646 m) ab. Den einzigen Hinweis liefert eine Tafel mit der Aufschrift „Hochweißsteinhaus“. Wir fahren auf einem schmalen Sträßchen, an einem Bauernhaus vorbei, hinab zur Gail und auf einem Brückerl darüber. Dann steigt das Strasserl an, zuerst noch asphaltiert und dann schottrig.
Nach vier Kilometern kommen mir die ersten Zweifel, sind wir hier wirklich richtig? Kein weiteres Hinweisschild ist zu sehen, und die Straße wird immer übler. Auf einer halsbrecherischen, mit großen Löchern gepflasterten Forststraße, ruckeln wir hoch. Es fühlt sich so an, als würden wir in einem riesigen, felswandgrauen Cocktailshaker sitzen, und die schottrige Straße ist der Barmann, der uns wie wild rüttelt und schüttelt. Canyontiefe Wasserrillen teilen die Straße, und drüberfahren, ohne mit dem Chassis aufzusetzen, ist nur im Rollator-Tempo möglich. Weil die Gefahr, dass wir uns in die Zunge beißen, viel zu groß ist, nehmen wir keine langen Wörter in den Mund und verständigen uns nur noch mit kurzen Ausrufen wie zum Beispiel: „schau!“, „pass auf!“, „wo?“, „vorsicht!“, u.s.w.. Eine Straße mit solch eigener Geografie würde Warnschilder wie dieses benötigen:
Weil wir in einem geschüttelten Maß verunsichert sind, halte ich an und schalte das GPS ein. Aber tatsächlich sind wir richtig – und jetzt folgt die zusätzliche Bestätigung in Form der ersten großen Rucksäcke, die mit ihren gebeugten Trägern absteigen – bestimmt haben sie einen Abschnitt des Karnischen Höhenwegs bewandert. Eines haben alle gemeinsam: Erschöpft schauen sie aus.
Eine weitere Erleichterung kommt mit den zirka zehn Autos, die am Parkplatz stehen. Gut so, wir sind nicht die einzigen Wahnsinnigen, die hier heraufgefahren sind.
Bis zur Ingridhütte (1646 m) sind es jetzt nur noch 50 Höhenmeter und einen halben Kilometer – in bestherrlichster Landschaft.
Bei diesen Bildbeschriftungen bin ich mir nicht hunderprozentig sicher.
Der Steig führt durch einen schmalen Streifen Grünerlen…
…zu dieser riesigen Almrauschplantage und weiter zum…
…Hochweißsteinhaus (1867 m) auf der Johanniseben.
Bereits 1927 wurde das Hochweißsteinhaus erbaut und 2009 umfassend erweitert und saniert. Wir halten uns nicht auf und wandern „durch“.
Hier passiert mir ein kleines Unachtsamkeitshoppala, das uns einen Umweg mit schönen Ausblicken einbringt. Wir wandern nämlich nicht direkt ins Hochalpljoch, sondern…
…folgen ohne viel nachzudenken einem älteren Pärchen. Die bewegen sich selbstsicher, ohne für Orientierungsblicke anzuhalten, durch die Landschaft. Er hat ein sehr männliches, entschlossenes Gesicht, ihres ist mehr das einer Geisel.
Weil wir jedoch anhalten und schauen und fotografieren müssen, kommen uns die beiden abhanden. Darum wandern wir auf eigene Faust weiter, was aber nicht schwierig ist. Es gibt gute Steigspuren bis zum Biadner Joch. Kurz verliere ich den Überlick, weil in der BEV-Karte hier kein Steig zu finden ist. Später jedoch kann ich in der Kompasskarte sehr wohl einen markierten Weg ausmachen.
Noch in meiner Verwirrung denke ich mir, dass es wohl besser ist, in einer so schönen Gegend die Orientierung zu verlieren, als in einer total abstoßenden.
Ich weiß zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, ob diese spitzen, schartigen Koboldzähne…
…etwas mit unserer heutigen Tour zu schaffen haben. Haben sie nicht, wie sich schon bald herausstellt.
Auch bei Murmeltieren gibt es Fehlbesetzungen. Vermutlich haben diese sonst so achtsamen Tiere den Opa auf die Aussichtswarte gesetzt. Der sieht und hört überhaupt nichts mehr. Ein müder alter Bär (Murmeltiermännchen). Wir sind so nahe, dass ich ihm ins haarige Altherrenohr blasen könnte. Selbst unser gutgemeintes heftiges Winken und lautes Zurufen bemerkt er nicht. Irgendwoher muss die Murmeltiersalbe ja kommen.
Blick zurück.
Erst an der Beschriftung „Passo di Sesis“ (2367 m) wird uns klar, dass wir bereits in Italien wandern.
Auf einem vorgeschobenen Felsen am Pass wacht diese Marienstatue über das Tal, die Berge und Wanderer. Viele Italiener steigen von der Südseite hier herauf und weiter auf den Hochweißstein (Monte Peralba), weil 1988 der 68-jährige Papst Johannes Paul II (jetzt ein Heiliger) diesen Gipfel ebenfalls bestieg.
Blick übers Hochalpljoch (2278 m) zu den Lienzer Dolomiten.
Mehr schaurig als schön: die Stellungen aus dem Ersten Weltkrieg am Hochalpl.
Wir gelangen zur schwarzen Rinne. Nur noch zweihundert Höhenmeter trennen uns vom Gipfel des Hochweißsteins.
Das leichte Klettergelände, wird durch seinen gerölligen schuttigen Charakter sehr fordernd.
Wir bunkern unsere Wanderstecken in einer Mulde und steigen noch einige Meter hoch.
Der Blick nach oben bereitet Gabi keine Freude – das ist nicht das Gelände, das sie liebt.
Und dann geschieht das Entscheidende. Nicht objektive Gefahren und Umstände (Lawinengefahr, Steinschlag, Wetter), sondern subjektives Unbehagen lässt uns innehalten.
Durch die lange Dauer unseres Zusammenseins haben sich Spiegelneuronen gebildet, welche in diesem Moment fürs gleiche Empfinden sorgen: Wir sind beide heute nicht trittsicher und darum bang. Müde sind wir auch, obwohl wir uns das in diesem Schottergelände gar nicht leisten können. Es fordert höchste Konzentration (UIAA I). Vor allem der Abstieg über die schottrig-steilen Abstufungen wäre noch sehr heraufsfordernd.
Weil wir anders denken, als die harten Hunde, die „Aufgegeben-wird-nur-ein-Brief-Philosophen“, die „Geht-nicht-gibt’s-nicht-Blitzer“, die „Tschakka-du-schaffst-es-Ausrufer“ und die „Beat-yesterday-Gejagten“ modifizieren wir unsere Tourenplanung und passen sie den heutigen, inneren, subjektiven Gegebenheiten an: der empfundenen Unsicherheit, der heute vorhandenen Minder-Geschicklichkeit, dem Unbehagen und der sich anpirschenden Angst.
Das auf diese Weise den momentanen Möglichkeiten angepasste Ziel,…
…sieht so aus: Das Hochalpl (2384 m). Es erhebt sich über den Kriegsbunkern, ist für uns heute machbar – und schon alleine dadurch eine gute Wahl. Wir werden den Gipfel erreichen, oben stehen und somit doch wieder ins Schwarze treffen – bloß ins andere Schwarze.
Neurologisch betrachtet, findet das ganze Leben im eigenen Kopf statt. Unsere Götter (Wünsche) erschaffen wir schon selbst. Wenn Menschen aufhören, an einen Gott zu glauben, stirbt er. Und je mehr sie an ihn glauben, desto stärker wird er. Nochmals anders ausgedrückt: „Du gibst allem die gesamte Bedeutung, die es für dich hat.“
„Man kann alles erreichen, wenn man nur wirklich will“ hat schon viel Unglück über die Menschen gebracht. Weil’s einfach nicht stimmt. Ich würde jedem mit der Statur eines Gewichthebers davon abraten, Marathonläufer mit Zeitanspruch zu werden. Der kann bei solch einem Unterfangen nicht glücklich werden.
Wir steigen in dieser fantastischen Landschaft zuerst ins Hochalpljoch (2278 m) ab. In Eduard Pichls Ataria Führer von 1929 wird noch die hier postierte italienische Grenzwache erwähnt.
Stacheldrahtreste sind die rostigen Vorboten der grauen…
…Kavernen aus dem Ersten Weltkrieg. Hart umkämpft war hier die Grenze, und uns befällt bei diesem Anblick ein mulmiges Gefühl.
Wir trauen uns gar nicht richtig hinein und schämen uns sogar ein wenig für die Neugier, die uns plagt.
Unzählbare Schrecknisse, Ängste und Tode hat dieser Landstrich, haben diese Unterstände gesehen. Ein Heutigentags-Österreicher oder Gegenwarts-Italiener kann nicht einmal dem eigenen Großvater das Erlittene nachfühlen, er kann es nicht nachspüren, wie denn auch? Nur die Sprachlosigkeit dieser Generation lässt etwas erahnen vom Unausprechlichen, das sich hier und anderswo ereignet hat.
Ein Soldat stirbt nicht
Ein Soldat stirbt nicht,
er wird nicht vergast, nicht verbrannt und nicht zermatscht.Er krepiert nicht mit herausquellenden Augen und
weitaufgerissenem Maul nach Luft saugend.
Er endet nicht tierisch schreiend und
sich epileptisch am Boden wälzend als lebende Fackel.
Er versucht nicht, schwerverletzt und panisch robbend
den alles zermalmenden Panzerketten zu entkommen.Ein Soldat hat keine Angst, keine Schmerzen.
Ein Soldat stirbt nicht,
er fällt.Hans-Peter Kraus
Auf dem eingeebneten Vorplatz der grauen Kriegsrelikte mit ihren toten Fensteraugen machen wir unsere herbeigesehnte Rast. Mit diesen Mahnmalen im Rücken erfährt unsere Stimmung einen kleinen Dämpfer. Unberührt lässt uns das nicht.
Im Oktober 2024 hat mich eine Mail von Hans Peter F. aus Lienz erreicht. Er wartet darin mit interessanten Informationen zu diesen Stellungsbauten auf. Ganz so wie ich es mir gedacht habe ist es nicht. Mit seiner Erlaubnis zitiere ich aus seiner Mail:
„Was die Tour zum Hochalpl betrifft, habe ich allerdings eine Korrektur anzubringen. Die hier beschriebenen Stellungsbauten aus dem Ersten Weltkrieg stammen nicht aus der Zeit. Sie, inklusive Wege dazu wurden erst in den dreißiger Jahren unter Mussolini errichtet. Der Hintergedanke war, bei weiteren militärischen Auseinandersetzungen bereits vor Ort zu sein. Allerdings hat die Kriegstechnik diese Planung ad absurdum geführt. Im zweiten Weltkrieg wurden diese Stellungen einfach überflogen. Die Kavernen wurden daher nie kriegerisch genutzt, höchstens von Zöllnern und Bauern als Schafunterstände. Die eigentlichen Unterkünfte aus dem ersten Weltkrieg waren noch wesentlich spartanischer und lebensfeindlicher. Zur grundsätzlichen Betrachtung dieser Ereignisse ist aber nichts hinzuzufügen. Allein an der heutigen Grenze zwischen Tirol und Südtirol, die ja nie Frontlinie war, existieren ca. 60 solcher Bauwerke. Viele wurden in den letzten Jahrzehnten privatisiert, eine davon am Villgrater Marchinkele sogar zu einer Schutzhütte umgebaut.“
(Hans Peter F. aus Lienz)
Doch ist der Ausblick auf die Lienzer Dolomiten einfach großartig.
Dominiert wir die Rundumschau jedoch vom alles überragenden Monte Peralba bzw. Hochweißstein (2694 m)
Gabi sitzt viel zu gut, als dass sie mit mir noch die wenigen Meter auf das Hochalpl gehen will.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Hochalpl (2384 m).
Zum Greifen nah, in scheinbarer gehweite, ragt der Weißsteinspitz (2479 m) auf.
Sogar von diesem Gipfel gibt es ein Panorama auf Alpen-Panoramen.de (einfach ins Bild klicken)
Vom Gipfel kann ich zur winkenden Gabriele sehen, die abstiegsbereit bereits auf mich wartet.
Die Namensfindung „Hochweißstein“ oder „Der weiße Berg“ oder „Monte Peralba“ erklärt sich beim Anblick der Felsformationen rund um den Hochweißstein ganz von selbst.
Aus den Kriegszeiten sind auch noch Überbleibsel der für den Nachschub mühsam errichteten Straßen- und Rampen zu erkennen.
Ein letzter Blick zurück auf den Hochweißstein. Weil er etwas südlich abgesetzt ist, kann man ihn vom Frohntal bzw. Hochweißsteinhaus nicht sehen.
Ein Blick zur Ingridhütte am Ende des Frohntals und eine (Johannis)ebene darüber das Hochweißsteinhaus.
Unser Abstiegsgelände führt aber nicht direkt hinab, sondern hält noch eine gehörige Überraschung für uns bereit. An den steil aufragenden Felswänden des Weißsteinspitz (2479 m) hat Mutter Natur aus Gräsern, Moosen und Blumen…
…Felswachsereien entsehen lassen. Die Ähnlichkeit mit den tausende Jahre alten Felsmalereien in der Lascaux Höhle (17.000 und 15.000 v. Chr.)…
..ist doch für jeden ersichtlich – meine ich. Ich finde die Ähnlichkeit verblüffend.
Meine Lebenskomplizin, die auch meine Frau ist, sieht das nicht so. Sie lächelt mitleidig, während ich mit Intelligenz, Einfallsreichtum und Interpretationskraft meine Sichtungen beschreibe. Sie ist davon ganz und gar nicht überzeugt und wendet…
… meinen archäologisch-floralbiologischen Deutungsambitionen…
….schon bald den Rücken zu.
Wir übersteigen den Frohnbach ganz nah an seiner Quelle…
…und sind schon bald wieder auf der Johnniseben. Blick zurück.
Trotz schlechter Wetterprognose für die nächsten Tage begegnen uns im Abstieg zur Ingridhütte völlig überladene Wanderer. Vor allem jungen Frauen mit 300 Liter Rucksäcken – ich wusste gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt – plagen sich wie lastentragende Sherpas in kleinen Schritten hoch. Vermutlich übernachten sie auf der Hütte, um danach am Karnischen Höhenweg weiterzuwandern. Mit dem Hausrat am Rücken sieht das jedoch nach einer engen Geschichte aus. Ich weiß, wovon ich schreibe, da habe ich Ahnung. Die müssen jetzt schon Pausen einlegen. Ruhen und schnaufen. Einen Berg unter den Füßen und einen Berg am Rücken.
Im Anstieg etwa 965 Hm und zurückgelegte Entfernung nahezu 12,3 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Osttirol (Auswahl):
- Osttirol erster Tag: Rund um die Sillianer Hütte
Schützenmahd (2224m), Füllhorn (2445m), Helm (Monte Elmo) (2060m), Hornischegg (2550m), Hochgruben (2538m) - Osttirol zweiter Tag: Wo im Himmel Blumen wachsen
Golzentipp (2317m), Alplspitze (2296m) - Osttirol dritter Tag: Böses Weibele
Böses Weibele (2521m), Rastl (2403m) - Wanderung auf den Hausberg der Innervillgratner
Kreuzspitze (Eggeberg) (2624m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Die Bildbeschriftung erfolgte mit: PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Version: 1.0.3 © Christian Dellwo.
„Ein Soldat stirbt nicht“ Für die Erlaubnis zur Veröffentlichung danke ich dem Autor Hans-Peter Kraus. Dieses Gedicht befindet sich auf: https://www.ziemlichkraus.de/gedichte/soldat.htm (abgerufen am 24.3.2019)
„Friaulaner Dolomiten“ von Camillo Pötzsch (abgerufen am 24.3.2019)
Aus Wikipedia (alle abgerufen am 24.3.2019)
https://de.wikipedia.org/wiki/Monte_Peralba
https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Paul_II.
„Du gibst allem die gesamte Bedeutung die es für dich hat.“ habe ich mir in leicht abgewandelter Form aus „Ein Kurs in Wundern“ ausgeborgt.
FIN