Bernsteinlandschaft und „nur“ ein Gipfel: Lahngangkogel (1778 m)

Manchmal ist es einfach nicht möglich, für eine gemeinsame Wanderung auf das „richtige“ Wetter zu warten. Entweder findet man keinen gemeinsamen Tag in den überlasteten Kalendern, oder man bleibt stur beim angepeilten Datum, weil man sich schon so lange auf die gemeinsame Wanderung gefreut hat. Also zieht man los, egal welches Wetter sich ankündigt. Und wenn sich dann herbstliche Wolken auf den Gipfeln türmen, könnte das ein Fehler gewesen sein. Sorgt aber bitterkalter Wind für blaue Einfleckungen im Himmelsgrau, hat man vielleicht einen Fehler gemacht – aber es ist der richtige Fehler!

Nahe der Nagelschmiede, neben der Bundesstraße noch vor dem alten Mauthäuschen, (1094 m) parken wir unser Auto und gehen los. Ganz ohne Menschenhilfe dekoriert der Herbst die Landschaft — jedoch mit Kindermenschenhilfe…

…schafft er in einem alten Baumstock dieses Diorama der Berge um uns, mitsamt den dazugehörigen Kastanienwanderern.

Wir bleiben für zirka 1,5 km auf der Straße und schwenken nach diesem Schranken,…

…von der Straße weg, den ersten Lifthang steil hinauf.

Unser Gipfel ist noch ganz in Nebel, wie ein kostbares Überraschungsgeschenk, blickdicht verpackt.

Schon bald wird uns von einer Markierung, und vor allem durch Steigspuren, das Verlassen der Schipiste nahegelegt.

Geradewegs nicht empfohlen wird uns das Betreten von Hunden (Steiermärkische Landwirtschaftskammer).

Schon einmal habe ich mich mit diesem Gary-Larson-Cartoon über ein solches Schild lustig gemacht, weil ich es für einen originellen Einzelfall hielt. Aber das ist so eine  Sache mit den „Einzelfällen“. Denn beinahe so verhängnisvoll, wie die eingeschleppten Aga-Kröten in Queensland, vermehren sich diese Schilder jetzt fast seuchenartig in der Steiermark. Mittlerweile hat die Anzahl dieser grünen Invasoren explosionsartig zugenommen, und schlimmstenfalls werden sie die Sprache und Zeichensetzung in der Grünen Mark nachhaltig verändern.

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Am Edenburger Törl (1308 m) folgen wir den Hinweisschildern in Richtung Wagenbänkalm.

Evolutionär dürfte der Topf mit dem Genmaterial für mein und Rias Geläuf zwischen dem Bottich mit den Igelbeinen und dem Kessel für die gekrümmten Dackelhaxen gestanden haben. Wir haben also Beine mit Würze… Oder um es direkter auszudrücken: Lange Beine haben die anderen und nicht wir. Darum sind wir über diese, von den Bäumen gutwillig eng gesetzten Wurzelstufen hoch erfreut. Sie erleichtern uns den Anstieg und lassen genug Sauerstoff für ein Gespräch.

Diesen auffälligen Baum neben dem Weg haben zweifellos schon viele vor mir fotografiert. Es stimmt schon, was Diderot einmal anmerkte:

Es gibt mehr Poesie, mehr Abwechslung, (…) in jedem Baum, der die Jahre und die Jahreszeiten durchgestanden hat, als in sämtlichen Fassaden herrschaftlicher Häuser.

Denis Diderot (Salons)

Zauberisch verwandelt ist die Wagenbänkalm (1565 m) an diesem Tag. Nebelgetränkt und lichtdurchflutet zugleich. Sieht so schemenhaft der Blick aufs zukünftige Leben eines jeden einzelnen von uns aus? In simplen Lebenshilfeseminaren und in noch schlichteren Lebenshilfebüchern wird mit Vorliebe auf dieses abgeschmackte Palindrom (Nebel ergibt rückwärts gelesen Leben) zurückgegriffen. So weit möchte ich jetzt nicht gehen. Jedoch auch uns durchschaudert auf so eine ganz stille Art das Gefühl, dass wir…

…unter dem Einfluss ungewisser Gottheiten leben.

Weil es einfach nur schön ist, durchstreifen wir die Landschaft.

Auf den Weiterweg zum Gipfel des Wagenbänkberg (1626 m) verzichten wir hingegen. Bis zu diesem Moment war ich meiner Tochter den Beweis schuldig, nicht völlig der Gipfelsucht verfallen zu sein. „Du bist wirklich weg von der Nadel oder vielmehr vom Peak“ sagt ihr stolzer Blick zu mir.

Als Gipfel-Methadon bietet mir Ria ein gemeinsames Foto an. Dazu bestimmt sie die in der Karte verzeichnete, aber völlig unbedeutenden Höhenkote 1602 m. Sie meint es gut mit mir, sie liebt und achtet mich. Jedoch entgehen sie mir nicht, die kleinen Spottfalten um ihre Mundwinkel. Unser Posieren auf diesem Nichtgipfel spürt sich falsch an, irgendwie anders, als würde es sich nicht gehören. Sie weiß es, ich weiß es – es ist ja doch nur ein Substitutionsgipfel, der Abklatsch eines richtigen Gipfels. Eine Erklärung für diesen mentalen Mechanismus, der mich Berge, auch noch so niedrige, besteigen lässt, muss ich Ria und mir selbst schuldig bleiben.Vielleicht mache ich es ja, weil es zur Nützlichkeit all dessen gehört, was man ohne Berechnung, nur für sich selbst tut. Dass es bei diesen, in der restlichen Welt zumeist völlig unbekannten Erhebungen, jedoch nicht ums Sozialprestige geht, steht fest. Nur in einer kleinen Community (Bergnerds mit ähnlicher Beschädigung) werden solche Besteigungen wohlwollend registriert.

Meine Tochter hat sich zu früh gefreut, denn als freiwillig Gezwungener werde ich wiederkehren: Insgeheim fasst etwas in mir den Beschluss, den Wagenbänk-Gipfel ein andermal, vielleicht mit Schneeschuhen, aufzusuchen.

Nach diesem kurzen Abstecher finden wir wieder zur Alm zurück und sehen bereits den letzten Anstieg vor uns.

Um durch den Winter zu kommen, verbrauchen selbst die einfachsten Behausungen in den Alpen Brennstoff wie Kreuzfahrtschiffe auf hoher See.

Wie aussichtsstark selbst diese Alm schon ist, beweist wieder einmal ein Eidenberger Panorama auf Alpen-Panoramen.de. Einfach ins Bild klicken.

© Gerhard Eidenberger auf Alpen-Panoramen.de

Aus dem Nebel unter uns hören wir das aufgeregte Gestammel unterforderter Kinder. Diese Wanderung ist ganz im guten Sinne mehrheitsfähig. Der Gipfel ist auch für kurze Menschen gut machbar.

Blick zurück zur Alm.

Wieder erfährt der Tag eine Wandlung, und die Landschaft beginnt noch stärker ins…

…Skandinavische zu kippen. Ein riesiges Gespinst aus Beerensträuchern mit seinen kleinen knorpeligen Ästen und noch kleineren verfärbten Blättern überzieht den Lahngangkogel. Wenn einzelne Sonnenstrahlen für kurze Momente draufscheinen, überkommt uns eine Ahnung von Bernstein.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Lahngangkogel (1778 m).

Es ist schon einiges los. Aufgeweckte Kinder und trinkende Menschen knäueln sich am Gipfel.

Abseits von Gipfelkreuz und Weg finden wir einen guten Rastplatz.

Wir setzten uns mitten hinein in dieses federnde Geäst, und unsere Hinterteile berühren dabei nicht einmal den Boden. Immer wieder umhüllt uns der Nebel und schenkt uns in seiner feuchtsanften Art Abgeschiedenheit und wattierte Diskretion.

Noch ist das kein grauer Schneehimmel, sondern lediglich der sichtbare Atem des Herbstes. Der Nebel kappt den Blick in den weiten Raum – Georg Paulmichl nennt das in einem Gedicht so treffend „verkürzte Landschaft“.

Wir rasten nicht lange, die Hütte ist ja nicht mehr weit, und ohne Bewegung friert uns.

Zeitweise verwandeln jetzt Sonne und Wind den Nebel in dünne, immer durchsichtigere Fetzen.

Und dann endlich hebt sich der Vorhang. Jetzt wird auch für uns sichtbar, wie die Ennstaler Alpen mit dem großen Besteck auffahren.

Interessiert betrachte ich das Abstiegsgelände vom Kreuzkogel (2011 m). Sogar der Steig bei dessen Begehung mir meine Frau das Du-Wort entzog, ist gut zu erkennen: Keine Bergtour bei der man gähnen muss: Riffel (2106 m) und Kreuzkogel (2011 m).

Die ruhigen Töne dieser langsamen Landschaft…

…glänzen auch in bernsteinfunkelndem Groove.

Wie sich diese Stimmung für mich in Töne gegossen, in Musik verwandelt anhört, ist in diesem unglaublich schönen Stück von Nils Frahm zu hören. Ich mag es sehr und nicht ohne Grund heißt es „Ambre“.

Man könnte die Musik (3:13) laufen lassen und langsam zu den nächsten Bildern weiterscrollen.

Blick zurück, auf die soeben durchwanderte Landschaft.

Ein Kleinstsee mit Kiefernwaldufern und darin gespiegelt…

…der Admonter Kalbling.

Wie kleine Kinder spielen wir mit dem dunklen Wasser und den Spiegelungen.

Für uns könnte es jetzt immer so weiter gehen, gar nicht genug bekommen wir von all diesen intensiven Eindrücken. Doch das Ende naht. Nicht weit von diesem spiegelgleichen blauschwarzen Saphir beginnt der Abstieg.

Kalbling (2196 m) und Sparafeld (2247 m) sind sogar Wandergipfel. Beim Admonter Reichenstein (2251 m) sieht das anders aus. Schwierig und sogar gefährlich ist seine Besteigung. Für frische und junge Nerven also genau das Richtige. Meine Zustände bei seiner Besteigung habe ich sehr ausführlich hier beschrieben: Tat und Zweifel am Admonter Reichenstein.

Am Kalblinggatterl (1542 m) kommen wir bereits in den Wärmesog der geheizten Oberst-Klinke-Hütte.

Ohne Schatten eines kulinarischen Zweifels trinkt Ria Bier zur Marmeladepalatschinke.

Von der Kachelofenhitze sind unsere Wangen reichlich rot angeworfen, und das Bier trägt auch noch das Seinige dazu bei.

Der markierte Weg kürzt die Mautstraße mehrfach ab.

Im Abstieg bleiben wir noch einige Male stehen, um auf dieses herrliche Kalbling-Panorama zu blicken.

Es ist eine einnehmende Wanderung, und selbst die dafür erforderlichen Höhenmeter sind für eine Tagestour überschaubar. Weil die Hälfte davon bergab führen, spüren sich  die sechzehn Kilometer nicht wie sechzehn Kilometer an, sondern mehr so, wie zehn oder elf. Was wir in unserer Nebelstimmung nicht sehen durften, kann man in beeindruckenden Bildern bei Helmut Seiringer nachsehen: Lahngangkogel

Leopold war ebenfalls hier. Andere Jahreszeit, andere schöne Bilder: Lahngangkogel

Im Epilog dieses Blogeintrags finden sich auch noch Winterbilder meiner Schitour vom April 2009.

Im Anstieg etwa 760 Hm und zurückgelegte Entfernung nahezu 16,1 km.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at


Darf’s ein bisserl mehr sein?

Weitere Unternehmungen in der Region Ennstaler Alpen (Auswahl):

Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.

Meine Quellen:

Ausschnitt aus Kompass Logo Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.

Die Bildbeschriftung erfolgte mit:
PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Ⓒ Christian Dellwo.

Brennstoff wie Kreuzfahrtsschiffe auf hoher See“ habe ich mir, aus einem anderen Zusammenhang gerissen, von T.C. Boyle ausgeborgt.

„Auch das zählt zur Nützlichkeit all dessen, was man ohne Berechnung, nur für sich selbst tut.“ ist eine Zitatanlehnung an Marguerite Yourcear „Ich zähmte die Wölfin“.

Helmut Seiringer: http://hs-bergtouren.blogspot.com/search/label/Lahngangkogel  (abgerufen am 23.2.2019)

Paulis Tourenbuch: http://www.paulis-tourenbuch.at/2017/20170305_lahngangkogel.html (abgerufen am 23.2.2019)

Paulmichl (1994) Verkürzte Landschaft. Haymon Verlag, Innsbruck.

Kren (2011): Tourenbuch Gesäuse Wege, Hütten, Gipfel. Schall Verlag,Alland.

Frischenschlager et al. (1996): Ennstal – Vom Dachstein bis zum Gesäuse. Wanderführer, Leopold Stocker Verlag, Graz.

End (1988): Gesäuseberge. AV-Führer, Bergverlag Rother, München.

Mokrejs/Ostermayer (2009): Bergwander-Atlas Steiermark. Schall Verlag, Alland.

Nils Frahm (2009): Wintermusik. Audio CD. Label: Erased Tapes/Indigo

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EPILOG

Schitour am 11.4.2009

Vom Schigebiet in der Kaiserau bin ich einer Aufstiegsspur neben der Mautstraße zur Oberst-Klinke-Hütte gefolgt.

Übers Kalblinggatterl nahe dem Sommerweg (unseren Abstiegsweg) führte mich diese Spur weiter aufwärts.

Der wellenartige überwechtete Kamm bot einen ganz eigenwilligen Anblick.

Blick zur Mödlinger Hütte, und dahinter ragt der Ödstein (2335 m) auf.

Gipfelfoto Lahngangkogel mit der Bösensteingruppe im Hintergrund.

Dachstein und Grimming.

Hier ereignete sich das Hoppala, das mir die Anschaffung eines GPS-Gerätes auf sehr eindrückliche Weise nahe legte: Ich entschied mich für die Abfahrtsvariante über die Wagenbänkalm. Irgendwie werde ich schon ins Schigebiet zurück finden. Dachte ich. Jedenfalls ging die Sache dermaßen schief, dass ich mit den Schiern in der Hand in Dietmannsdorf ankam und einen Einheimischen bitten musste, mich mit seinem Auto wieder auf die Kaiserau zu bringen.

FIN