Kein Berg zu abseitig, kein Gipfel zu nischig: Höhenberg (1320 m) im Reichraminger Hintergebirge

Meine Tourenbeschreibung zur blutigen Brunnbacher Gamssteinbesteigung im Mai 2019 habe ich so eingeleitet: „Rund um den Dürrensteigkamm, im Reichraminger Hintergebirge, habe ich schon viele Gipfel bestiegen, und nur noch wenige sind hier unerwähnt. Im Westen flicke ich heute drei Gipfel hinzu…“. Ähnliches gilt hier für den selten bestiegenen Höhenberg (1320 m). Nur 1,5 km Luftlinie von der Langlackenmauer (1482 m) und dem Almkogel (1513 m) entfernt, bekommt er selten Besuch, er ist eines der vielen bergwaldlichen Waisenkinder im Hintergebirge. 

Bei meinem Gamssteinbesuch, vom Gamsstein Köpfl (1278 m) am Danzersteig habe ich diese beiden Bilder von meinem heutige Ziel aufgenommen: 

Der Höhenberg im Zoom:

Ich starte vom Nationalparkzentrum Brunnbach. Ein langer Forststraßenzustieg (zirka fünfeinhalb Kilometer) wartet auf mich. Trotz des fortgeschrittenen Vormittags ist es noch kühl, und die cremig-sanfte Textur des feuchten Nebels schmiegt sich in die Talrunsen des Reichraminger Hintergebirges.

Gleich zu Beginn meiner Wanderung stehe ich vor dem Nationalpark Bildungshaus Brunnbachschule, das auf eine langjährige Geschichte als Winkelschule von Brunnbach zurückblicken kann. 

Weil der Weg in die Schule nach Großraming für die Kinder viel zu weit und beschwerlich gewesen wäre, wurden sie in der Winkelschule von Brunnbach von einem, durch einen Unfall arbeitsunfähig gewordenen Holzknecht, dann vom Holzknecht Johann Schwaiger und schließlich vom als Waldschulmeister bekannt gewordnen Forstarbeiter Johann Gsöllpointner unterrichtet. Wie Wolfgang Heitzmann und Otto Harant in ihrem Buch „Reichraminger Hintergebirge“ berichten:…erteilte er Unterricht im Lesen und Schreiben, in der Religion und im Rechnen – allerdings nur subtrahieren und addieren, denn mehr konnte er selbst nicht. Kein Geringerer, als der damalige Schulinspektor Adalbert Stifter, bemühte sich um eine Änderung der Winkelschul-Zustände in Brunnbach, doch blieben seine Bemühungen bis 1887 erfolglos. Erst dann wurde der „Waldschulmeister“ Johann Gsöllpointner von einem geprüften Lehrer abgelöst.“

Ansichtskarte, die 1903 zur Erinnerung an den Holzknecht und autoditaktischen Lehrer Johann Gsöllpointner aufgelegt wurde. (Rep.: K. Hochleitner)

Wir (die Forststraße und ich) folgen dem Brunnbach.

Heute ist das nicht der Fall, jedoch ist dieser Forststraßenabschnitt bis hierher zur Abzweigung auf die Gschwendalm (ca. 2,5 Kilometer) viel begangen.

Ich bleibe indes auf der Forststraße und steige in Richung Schönbichl und Kronsteineralm weiter auf.

Diesen Ziehweg, der ein kurzes Stück parallel zum steilen Höhenberggraben hochzieht und vielleicht eine Abkürzung des Straßenhatschers sein könnte, lasse ich aus Vorsichtsgründen rechts liegen.

Endlich wird mir auch ein erster Blick auf die felsigen Abbrüche des Höhenbergs samt der Brunnsteinmauer und den sausteilen Höhenberggraben gewährt.

Der Blick zurück zeigt mir den Brunnbacher Gamsstein.

Nach ca. 5,5 Kilometer auf der Straße gelange ich zur Kronsteineralm (1039 m) und erlebe eine Überraschung – da gibt es gar keine Alm, nur einen kleinen, inselartigen Wiesenflecken im Holzmeer und sonst nix. Allein noch auf der Karte exisistiert der Name, und wenn er dort verschwindet, folgt auch er der Alm in die Vergessenheit. Nicht zu verwechseln mit der zwischen Brunnbach und dem Bauernhaus Rauchgrabner befindliche, ebenfalls verfallenen, Kronsteineralm.

Kurz vor erreichen der Kronsteineralm habe ich diesen verwachsenen Ziehweg erblickt. Weil ich bei der Alm keine offensichtlich praktikablere Aufstiegsmöglichkeit finde, wandere ich ein Stück zurück, um diesen Weg zu versuchen.

Ich muss eine Etage höher und erwische den Aufstieg zum Jagdhaus oberhalb leider etwas ungünstig. Jetzt geht’s durch pritschnasses, brusthohes Farnzeugs und Wiesengewächs,…

…das manchmal auch kopfhoch daherkommt.

Der Boden ist tief durchfeuchtet,…

…und bis zum Gürtel hoch bin ich völlig durchnässt, als wäre ich durch ein Reisfeld auf Bali hochgewatet.

Foto von Almatel auf Pixabay. Thanks.

Nimmt man mir den Reisbauern ab? Vielleicht eher doch den Elefanten im Reisfeld.

Ich lege eine kurze Trocknungsrast ein und sinniere beim Auftrocknen über das Errichtungsjahr der Kühbodenjagdhütte (1170 m).

Ob die Jagdhütte wirklich ihren Ursprung 1894 hat? Die Welt war in diesen Jahren vor der Jahrhundertwende, wie auch heute, im Umbruch. Und offensichtlich gab es auch damals Weltumbruchsflüchtige, wie ich gelegentlich einer bin. So eine Hütte im hintersten Hintergebirgseck ist eine Weltflucht, ein Weltversteck, eine hölzerne Höhle im Waldgebirge. 

Als ich mich entschließe weiterzuwandern, ist meine Hose noch lange nicht trocken, jedoch haben sich meine Oberschenkel an die Nässe gewöhnt. Bei den Pflegestandards, die auf uns zukommen, bestimmt ein gutes Inkontinenztraining, denke ich mir. Zweihundert Meter vor mir, am rechten Rand dieser begrünten Hangrutschung, beginnt der (fast) weglose, finale Aufstieg.

Noch einmal blicke ich zur Jagdhütte und den dahinter aufragenden Dürrensteigkamm. Ein Blick auf den Gipfel der Langlackenmauer (1482 m) geht sich nicht aus.

Hier schlage ich mich ins Gebüsch…

…und finde Steigspuren,…

…welche ziemlich gut zu sehen sind und zügig hochziehen. Oben schleicht sich der „Pfad“ aus, bis die dünnste Spur verschwunden ist.

Eine der wenigen Ausblicksmöglichkeiten zeigt mir den nördlichen Teil des Dürrensteigkammes, von der Langlackenmauer (1482 m) bis zum Burgspitz (1429 m). Meine Überschreitung kann man hier nachlesen: Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben oder eine Biwaknacht & zehn Gipfel am Dürrensteigkamm: Teil 2

Im hintergebirgstypischen Waldgelände…

…kann ich mir erhebliche Freiheiten in der Wegfindung erlauben.

Es ist fast nicht zu glauben,…

…dass dieser Berg vor 45 Jahren völlig kahlgeschlägert war. Dazu später mehr.

Die letzten Meter wandere ich am Rand der östlichen Abbrüche entlang bis zum Gipfel.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Höhenberg (1320 m). Diesmal, damit dieses Jahr der ungewohnten neuen Angewohnheiten nicht in Vergessenheit gerät, mit Coronaschutzmaske.

Die Kämpfe rund ums Maskentragen und vor allem Nichttragen übersteigen meine naturwissenschaftliche Weltsicht und scheinen mir in Anbetracht des bevorstehenden Kipppunktes im Klima als Ameisenkämpfe. Ich vermeine die Unumkehrbarkeit der Zeit zu spüren. Um so wichtiger ist es, gute Momente zu sammeln und zu bunkern. Andererseits, wenn man ihr nur eine kleine Chance lässt – tut die Natur weiter, auch ohne uns.

Hier zu sitzen, langsam die Jause auszupacken und in den Wald hineinzuhören, eingebettet in solch optische Ruhe, das sind die schönsten Stunden der Alleineseinzeit! Jeder von uns kennt das Gefühl der Einsamkeit in der Menge. Es gibt jedoch auch das Gegenteil: Die Geborgenheit im Alleinsein.

Ich bin schon bekannt, sogar berüchtigt für meine langen Gipfelrasten, es ist jedoch so, dass für mich Gipfelzeit die Zeit außerhalb der Auszeit ist. Potenzierte Auszeit sozusagen.

Und doch geht es irgendwann weiter, weil ich da nicht ewig sitzen bleiben kann. Mit Trauer im Herzen beginne ich den langen Rückweg. 

Die Felsentürmchen der  gegenüberliegenden Langlackenmauer (1482 m) zoome ich heran. Am unteren Bildrand ist die Kühbodenjagdhütte gut zu erkennen. Die Straße, welche zu sehen ist, führt nach Norden ins Nichts und nach Süden zur Brandlucken bzw. zum Hirschkogelsattel (822 m) unterhalb der Anlaufalm.

Wie steil das Gelände an der Ostseite ist, lässt sich hier gut erkennen.

Blick zu Reiflingeck (1424 m) und Ochsenkogel (1444 m).

Den Rückweg will ich mir weniger feucht gestalten, und da versuche ich eine andere Variante. Hier stellt sich mir nicht eine Schlange in den Weg, sondern die vermeintlich angriffslustige Abwurfstange eines Rehbocks oder Hirschen.

Den Abstieg erwische ich ein wenig besser,…

…aber auch nur, weil es trockener hergeht, steil abwärts geht es auch hier.

Wieder zurück bei der nur noch als Name auf der Landkarte existierenden Kronsteineralm, rüste ich mich für den langen Forststraßenrückweg. Das T-Shirt wird nochmals gewechselt, die Schuhe frisch geschnürt und etwas getrunken. Die 5,5 Kilometer Forststraße können kommen. Mit großen Marschierschritten ziehe ich los.

Das maximal Bedeutsame dieser Wanderung liegt bestimmt nicht im Erreichen des Gipfels, sondern einfach in der Tat. Aufbrechen, sich auf den Weg machen, unterwegs sein und sich nicht mit Bedeutungstiefe beschweren – einfach im Spiel bleiben.

Um besser zu verstehen, was Wolfgang Heitzmann im folgenden Text meint und was mit diesem Berg vor 45 Jahren geschah, füge ich noch zwei Fotos von der Südseite an.

Die Forststraßen lassen sich noch gut erkennen, jedoch den Kahlschlag den Heitzmann in seinem „Oberösterreichischen Voralpen Führer“ betrauert, den sieht man nicht mehr, da hat sich seine Hoffnung erfüllt.

Blick vom süd-westlich befindlichen Kleinzöbel (1099 m) auf die Südseite des Höhenberges.

„Der Brunnbacher Höhenberg steht mit seinen 1320 Metern hoch über dem Brunnbachtal und ist durch einen breiten Sattel, dem Kühboden, vom Dürrensteigkamm getrennt. Herrliche Wälder müssen hier einmal gewachsen sein in der Einsamkeit des östlichen Hintergebirges, einige Reste verraten es noch. Doch welchen Anblick bietet dieser Berg heute! Verstümmelt, amputiert und schwer verwundet ist er ein Jammerbild, eine mitleiderregende Karikatur ehemaliger Voralpenschönheit: Gleich einer Glatze überzieht ein gewaltiger Kahlschlag die Gipfelhöhe; wie die Fraßgänge der Krätzmilbe in der Haut eines Kranken umwinden zahlreiche Forststraßen den gequälten Berg und hinterlassen tiefe Wunden, von denen manche unheilbar sind und bereits den Beginn einer unaufhaltsamen Erosion anzeigen. Gnadenlos laufen diese Gänge um den Berg, durch Felsen und steile Hänge; am häßlichsten (!) vielleicht an den Abbrüchen der Brunnsteinmauer, einer nördlich vorgelagerten Felsformation: Kilometerweit leuchten die Sprengwunden ins Tal, brutal auf die Naturverachtung ihrer Verursacher hinweisend. (…) Tröstlich ist nur der Gedanke, daß (!) die Natur wenigsten einen Teil dieser Schande wieder mit Grün überzieht…“ Wolfgang Heitzman, 1985.

Blick vom Kleinzöbel (1099 m) auf den breiten Sattel des Kühbodens.

Im Reichraminger Hintergebirge ist des Umherschweifens kein Ende. Nicht nur nochmals, sondern noch viele Male werde ich hierherkommen, um abgelegene, versteckte Waldgipfel zu besteigen. Um wie schon geschrieben, aufzubrechen, mich auf den Weg zu machen, unterwegs sein und mich nicht mit Bedeutungstiefe zu beschweren. Einfach, um noch ein wenig im Spiel zu bleiben und den (Galgen)Humor nicht zu verlieren:

© Dik Browne

Im Anstieg etwa 910 Hm, und zurückgelegte Entfernung nahezu 18 km.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at


Darf’s ein bisserl mehr sein?

Weitere Unternehmungen in der Region Reichraminger Hintergebirge & Sengsengebirge (Auswahl):

Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.

Ausschnitt aus Kompass Logo Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.

Die Bildbeschriftung erfolgte mit:
PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Ⓒ Christian Dellwo.

Meine Quellen:

Manfred hat diesen Gipfel in einer Riesenrunde „mitgenommen“: https://manfredsberge.blogspot.com/2018/10/hohenberg-1320m-ein-bisschen.html (abgerufen am 15.10.2022)

Im Blog vom Henry, dem Hund des Kirchenwirtes Ahrer in Großraming, findet man diese Beschreibung (abgerufen am 15.10.2022):

Der Höhenberg im Hintergebirge

Heitzmann, Harant (1996): OÖ-Voralpen. OeAV-Führer, Ennsthaler Verlag, Steyr.


Heitzmann, Harant (1999): Reichraminger Hintergebirge (Neuauflage) Ennsthaler Verlag, Steyr.


Sieghartsleitner (2009): Der Nationalpark Kalkalpen Weitwanderweg. Ennsthaler Verlag, Steyr.

An einen Text von Evelyn Schlag habe ich diese Formulierung angelehnt: „Oben schleicht sich der „Pfad“ aus, bis die dünnste Spur verschwunden ist.“

Zum Errichtungsjahr der Kühboden Jagdhütte findet sich auf Wikipedia so vieles, dass selbst hier im Anhang nur ein kleiner Auszug möglich ist:

1894

  • Der Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus wird zu Unrecht wegen Spionage zu lebenslanger Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt. Jahre später wird dieses Urteil die Dreyfus-Affäre auslösen und ganz Frankreich erschüttern und entzweien.
  • Das Reichstagsgebäude in Berlin wird durch Kaiser Wilhelm II eröffnet.
  • Der Arzt Alexandre Yersin entdeckt in Honkong den Erreger der Pest.
  • Der großartige Schriftsteller und furchtbar ekelhafte Antisemit Louis-Ferdinand Céline wurde am 27. Mai geboren.

Auch der von mir geliebte Joseph Roth wurde in diesem Jahr geboren. Vor zwei Jahren habe ich mit Gabriele in Amsterdam nach seinen Exilantenspuren gesucht.

Wir suchten nach dem „Scheltema“. In der Nähe des Dam auf der Nieuwezijd Voorburgwal 242 befindet sich dieses Lokal. Hier trank Joseph Roth mit Irmgard Keun und auch ohne sie.

FIN