„Ich muss wohl zwei oder drei Raupen aushalten, wenn ich die Schmetterlinge kennenlernen will“…
…spricht die Blume im Kleinen Prinzen. Gerade fürs Bergwandern ist das eine besonders geeignete Metapher. Für die heutige Wanderung gilt dieses Bild allerdings nicht – denn selten in den Niederen Tauern entpuppt sich das Verhältnis Aufstiegshöhenmeter zu Panorama als ein derart erschwingliches, wie bei dieser Wanderung auf den Hochrettelstein.
An diesem vielversprechenden Sommertag fahren wir auf der mautfreien Straße zur Planneralm. Wir überholen buckelnde, tief über den Lenker gebeugte Radfahrer. Jeder Straßenmeter führt uns höher und höher über die Nebeldecke im Ennstal.
Wir parken unser Fahrzeug in der Nähe des 3D-Bogenparcours und folgen dem breiten Schotterweg in Richtung Plannersee.
Die Morgenkühle hat bereits etwas herbstliches an sich. Unsichtbare Partikel in der Atmosphäre transportieren dieses Herbstvorgefühl durch die Luft. Erst zu Mittag wechselt dieser Tag zur Gänze in den Sommer.
In sanften Windungen steigt der Weg…
…mit einigen wasseraugigen Ablenkungen für Gabi…
…hoch zum See.
Dieses gar nicht so kleine Wässerchen auf 1788 m ist schon alleine einen Besuch wert. Gabi hofft, dass wir am Rückweg mehr Zeit an seinem Ufer verbringen werden. Werden wir nicht, wie sich noch zeigen wird.
Wir wandern weiter ans Seeende. Vor dort aufgestellten Zelten wird gefrühstückt und fröhlich auf unser „Guten Morgen“ geantwortet. Jetzt steilt sich der Weg auf, und durch bachdurchfeuchtete Wegkehren steigen wir hoch.
Überall rauscht das Wasser, quert den Weg, stürzt sich von den Felsen, sprudelt und gurgelt und ist quietschfidel. Fette Grüntöne überschwemmen die Landschaft.
Schon bald erreichen wir den Rand des Plannerkessels. Links von uns ist die Plannerseekarspitze (2072 m) über steilen Grashängen zu sehen. Noch wissen wir selbst nichts von unserem heutigen Besuch bei ihr.
Rechts von uns rundet sich der „Kesselrand“ zum Plannereck (2003 m) und zum Rotbühel (2019 m).
Wir steigen die wenigen Meter zur Plannerknot auf 1996 m. Im Bildhintergrund ist jetzt auch unser heutiges Bergziel zu erkennen. Schaut weit aus, ist es aber nicht.
Sonnenstrahlen kitzeln flatulenten Speikgeruch aus dem sanften Berghang.
Der Weg führt schnurgerade durch einen Hang verblühter…
…Alpenanemonen. So schön möchte ich als Verblühter auch noch aussehen. Die Haare wild und ein wenig silbern. Auch ein wenig ungezähmt, denn bei jedem Windhauch werden sie zu enthemmten Headbangern. Ich möchte meinen Protest auch in die Welt hinausnicken. Das würde mir schon gefallen.
Mein GPS wandert wieder einmal in den Rucksack, denn die Wegfindung ist wahrlich unterkomplex.
Was diese Tour so in die Länge zieht, sind die Steh- und Staunzeiten:
Der Mölbeggkamm fesselt unsere Blicke und…
…verschwindet als ganzer in meiner Gipfelvorratsdose. Imaginär, aber schwer – die Gipfelvorratsdose nimmt mit jeder Tour an Gewicht zu, statt leichter zu werden.
Gabi bekommt schon weit vor mir den finalen, steinigen Gipfelanstieg unter ihre Sohlen.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Hochrettelstein (2220 m).
Vor meinen hungrigen Augen schnippelt Gabi eine ganze Jausendose voll mit buntem Magenglück. Und dazu kommt noch das vorzügliche…
…Schaubuffet um uns. Kein Restaurant, keine Zweihaubenküche kann dieses Festmahl toppen. Gipfelsitzen. Essen. Schauen. Verstand auf Stand-by.
In meinem Magen ordnen sich die bunten Zutaten zu fantastischen Kaleidoskopfiguren. Blick in mein Inneres (Symbolbild):
Von den psychedelischen Bildern in unseren Mägen werden Gabis Augenlider schwer. Die unvergleichliche Schönheit der grünen Tauernberge vor sich, den Bauch mit bewusstseinsberuhigenden Speisen gut gefüllt, rollt sie sich in violettes Gore-Tex eingewickelt zum Bergembryo zusammen. Gabi ruht am Gipfel und in sich.
Vom Gipfel könnte man über die Scharfe Wand zur Seekoppe (2150) und über die Riednerseen zur Straße nach Oppenberg weiter wandern. Man kann aber, wie ich es 2012 gemacht habe, von der Seekoppe über das Riednertörl zum Hochgrößen (2115 m) und den Steinkarsee nach Oppenberg gehen. Eine völlig einsame, unschwierige, allerdings weite, Gratwanderung.
Auch die meisten der östlich gelegenen Berge habe ich bereits besucht. Eine ganz besondere Tour war 2013 meine Wanderung auf den Schüttkogel (2049 m), Tiefenkarspitz (1997 m), Horninger Zinken (1989 m) und die Schafzähne (1917 m).
Den Riednerzinken (1846 m) habe ich mir herangezoomt, den möchte ich auch noch besuchen, vielleicht mit Schi oder Schneeschuhen im kommenden Winter.
Ganz unscheinbar erstreckt sich der Hohe-Trett-Rücken unter uns. Dabei hat mir seine Überschreitung vor wenigen Wochen so großen Spaß gemacht. Dahinter sind die Wände des Hochangernstocks mit dem Nazogl (2057 m) und wiederum dahinter die Mölbinge (2336 m) und das Warscheneck (2388 m) zu sehen. Und hinter dem Dahinter der Große Priel (2515 m).
Die komplette Bösensteingruppe ist gut zu sehen.
Panorama in westliche Blickrichtung.
Panorama in nördliche Blickrichtung.
Ich war ja schon einmal auf diesem Gipfel (siehe Epilog), aber heute ist alles anders. So wenig, wie man zweimal in denselben Fluss steigt, steigt man zweimal auf denselben Berg. Nach einer langen Rast beginnen wir noch vor der Mittagsstunde mit dem Abstieg.
Jetzt begegnen uns die erwarteten Vielen. In geringen Abständen, wie ein bunter Tatzelwurm, schlängelt sich eine riesige Wandergruppe hoch. Männlein und Weiblein, Jung und Alt hintereinander aufgefädelt, wie bunte Glasperlen.
Am Rückweg bleiben wir nicht am Weg. Wir überschreiten den sanften Grat bis zur Plannerknot.
Jetzt fällt mir erst der nahe, langgezogene Rücken (bis zum Hintergullingspitz) mit dem Brennkogel (1871 m) auf. Zwei Schitourengipfel, die sofort auch in meiner Gipfelvorratsdose landen.
Wir bleiben immer am grünen Gratrücken. Wandern kann nicht schöner sein, denke ich mir bei diesem Blick auf unseren weglosen Weiterweg.
Nach einem letzten Steinmannfoto führt auch diese Gratwanderung wieder zur Plannerknot.
Weil aber das Über-den-Dingen-wandern so schön ist, will Gabi noch nicht absteigen. So lassen wir den See unten ruhen und bleiben lieber noch ein wenig oben. Wir wandern zur Plannerseekarspitze (2072 m) weiter. Der Steig über den steilen Wiesen schrumpft auf Schnürlbreite zusammen. Links und rechts haben wir viel Luft unter den Sohlen.
Hoch über dem Plannersee gelangen wir…
…auf einem, an einzelnen Stellen etwas ausgesetzten, aber nie schwierigen Steig,…
…auf den Gipfel der Plannerseekarspitze.
So unverzichtbar wie obligatorisch: Gipfelfoto Plannerseekarspitze (2072 m).
Der Blick den Grat entlang zu den Gstemmerspitzen. Wie es auf der Hinteren Gstemmerspitze (2104 m) aussieht (die erste Erhebung im Grat), wollen wir jetzt auch noch wissen.
Wir lassen den markierten Abstiegsweg links liegen…
…und steigen noch zum nächsten grünen Zapfen hoch. Bei fantastischer Aussicht machen wir unser obligatorisches und unverzichtbares Gipfelfoto: Hintere Gstemmerspitze (2090 m).
Vor uns die Mittlere Gstemmerspitze (2104 m)…
…und unter uns die Planneralm.
Gegenüber kann ich meine Gratüberschreitung von 2014 betrachten. Mit Reinhard bin ich über die Schoberspitze (2126 m), den Tattermann (2047 m), Hüttenkogel (1920 m), zur Schaabspitze (1901 m) gewandert.
Mittlerweile entfaltet die sommerliche Mittagshitze ihr ganzes Potential. Es wird Zeit, an den Abstieg zu denken. Wir wandern wieder zur Abzweigung zurück und steigen ab.
Nicht immer lässt Gabi dem Weg seinen Willen.
Über die federnden Erikapölster zu wandern, ist viel angenehmer und gibt ihr das Gefühl von elastischen Beinen.
Diese Wanderung ist eine einzige Lebensverschönerung, eine Vergoldung des Daseins.
Zur täglichen geistigen Vergiftung durch die Medien (Fernsehen, Radio, Internet…) ist Bergwandern ein echtes Gegenmittel. Schon nach einem Tag spüren wir die fortschreitende Gesundung. Dazu kommt noch Freude, weil es uns wieder einmal gelungen ist, der Banalität des Lebens ein paar Augenblicke zu entreißen, ein paar Stunden gemeinsam vor dem Nichts zu retten.
Im Anstieg ca. 850 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 10 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Donnersbacher Tauern (Auswahl):
- G wie gewittrig oder G wie genussvoll oder einfach G wie Gumpeneck (2226 m)
Gumpeneck (2226m), Blockfeldspitz (1929m), Salzleck (1783m), Zinken (2042m) - Grüne Weltabsage im Mörsbachtal oder wie ich zum Stillekoster wurde
Großes Bärneck (2071m), Schwarzkarspitz (1996m), Sonntagskarspitz (1999m), Gstemmerzinken (1996m), Kleines Bärneck (2037m), Silberkarspitze (2050m) - Tourensupperl aus dem Plannerkessel: Karlspitze (2097 m) und Jochspitze (2037 m)
Karlspitze (2097m), Jochspitze (2037m) - Von der Schoberspitze (2126 m) zur Schaabspitze (1901 m) – Gratwandern in Donnersbach
Schoberspitze (2126m), Tattermann (2047m), Schaabspitze (1901m), Hüttenkogel (1920m), Brandlspitz (1920m) - Mein Jahresgipfel Mörsbachspitz (2020 m) mit vergiftetem Bonus
Mörsbachspitz (2020m), Stadelfirst (1940m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Der kleine Prinz (Originaltitel: Le Petit Prince) ist eine mit eigenen Illustrationen versehene Erzählung des französischen Autors Antoine de Saint-Exupéry und sein bekanntestes Werk. (Wikipedia, abgerufen am 3.9.2016)
Auferbauer (2000): Bergtourenparadies Steiermark: Alle 2000er vom Dachstein bis zur Koralpe. Verlag Styria, Graz.
Auferbauer(2014): Niedere Tauern Ost mit Murauer Bergen und Turracher Höhe. Wanderführer. Bergverlag Rother, München.
Frischenschlager et al. (1996): Ennstal – Vom Dachstein bis zum Gesäuse. Wanderführer, Leopold Stocker Verlag, Graz.
Hödl (2008): Bergerlebnis Wölzer, Rottenmanner, Triebener Tauern und Seckauer Alpen. Steirische Verlagsgesellschaft, Graz.
Holl (2005): Niedere Tauern. AV-Führer, Bergverlag Rother, München.
Die Bildbeschriftung erfolgte mit:
PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Version: v 1.0.2 © 2007 Christian Dellwo.
EPILOG
Am 5. September 2008 besuchte ich, nach einer überstandenen schweren gesundheitlichen Krise, schon einmal den Hochrettelstein.
Die Krankheit ist derjenige unter allen Ärzten, auf den man am ehesten hört: Der Güte, dem Wissen gibt man Versprechungen; man gehorcht dem Leiden.
Marcel Proust (Sodom und Gomorrha)
Begleitet hat mich der geziemend geduldige Mike. Die wunderbaren Bergwiesen, schon herbstlich in Moll gewandet, entsprachen ganz meiner müden, inneren Seelenlandschaft.
Wir begannen unsere Wanderung ebenfalls unterhalb des 3D-Bogenparcours.
Allerdings war das Jahr schon viel weiter fortgeschritten.
Am See verblieben wir länger…
Der Plannersee ist ganz in Braunbeige und Braunocker gebettet.
Wir blieben am Weg und wanderten die durchnässte Steilstufe zum Plannerkesselrand hoch.
Ein Foto vom kleinen See über dem großen See.
Eine Zoomaufnahme vom Schreinl (2154 m) und…
…von der Schoberspitze (2126 m).
Blick in den Plannerkessel.
Cognacbraune Wiesen empfingen uns auf der Plannerknot.
Rückblick auf den Grat überm See, mit der Plannerseekarspitze (2072 m) in der Mitte.
Tiefblick ins Ranzenkar.
Gedankenlesen für Anfänger. Was sich Mike jetzt denkt ist ganz leicht zu erraten:
„Könnt ich diesen Stein nur heimtragen. Könnt ich nur. Wie schwer ist der denn? Mein Rucksack ist zu klein. Könnt ich nur diesen Stein heimtragen…“
Viele kleine Steine wanderten an diesem Tag durch seine Hände und so mancher in seinen Rucksack.
Meine Lieblingsjahreszeit in einer meiner liebsten Berglandschaften.
Eine letzte Rast vorm Erreichen…
…des Gipfels.
Mehrfach umrundete Mike das Gipfelkreuz,…
…während ich, weil ich so müde war, eine statische Position wie der Dachstein bevorzugte.
Im Zustand der Krankheit merken wir, dass wir nicht allein existieren, sondern an ein Wesen aus einem ganz anderen Reich gefesselt sind, von dem uns Abgründe trennen, das uns nicht kennt und dem wir uns unmöglich verständlich machen können: unseren Körper.
Marcel Proust
Eine einzelne Wolke spendete den Besteigern des Admonter Reichensteins (2251 m), abschnittsweise Schatten.
Im Nachmittagslicht entfaltete sich der besondere Niedere-Tauern-Zauber.
Tauernfarben.
Die Steinmänner waren noch nicht errichtet.
Die Tauernfarben entstehen, wie bei allen großen Gemälden,…
…im einzelnen Kleinen.
Das Detail…
…gebiert letztendlich das große Ganze.
Schön war’s und danke Mike.
FIN
EPILOG zum EPILOG
Am 7. Oktober 2007 wollte ich mit meinem Vater bereits einmal den Hochrettelstein besuchen. Allerdings befiel meinen Vater bereits am Plannersee derartiger Schwindel, dass an ein Weitergehen nicht mehr zu denken war. Ich brachte ihn in großer Sorge und windeseile wieder zum Auto und begleitete ihn ins Krankenhaus. Zum Glück war nur eine Viruserkrankung (im Ohr?) am Verlust seines Gleichgewichts schuld, und er konnte schon bald wieder das Spital verlassen. Diese wenigen Bilder habe ich damals gemacht.
FIN