Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Schuh: Alterskogel (916 m) Gamsstein (1275 m).

Meinen Blog habe ich von Beginn an als großes Wanderpatchwork konzipiert. Ich füge Wanderung an Wanderung, bis nach und nach ein Muster der möglichen Vollständigkeit sich abzeichnet. Rund um den Dürrensteigkamm in den OÖ-Voralpen habe ich schon viele Gipfel bestiegen, und nur noch wenige sind hier unerwähnt. Im Westen flicke ich heute drei Gipfel hinzu, und das ist eine unerwartet blutige Angelegenheit.

Das Sonnen-Tipp-Ex stippt die letzten Wolken vom Himmel, und obwohl…

… ein so schöner Tag in den Startlöchern steht, ist der Parkplatz auf der Gschwendthöhe zu neun Zehntel leer, unbeparkt zieht er ein langes graues Schottergesicht.

Mit ein paar geübten Griffen ins Auto verwandle ich mich in einen Wanderer und stapfe anschließend die Straße beim Gschwendbauern hoch.

Vielleicht geht sich dieses Jahr eine Größtenberg-Besteigung aus. Alpstein (1443 m) und Trämpl (1424 m) habe ich ja im Vorjahr besucht: Aus dem Nebel meiner Alltagsroutine: Alpstein (1143 m) und Trämpl (1424 m).

Beim Langerhäusl gehe ich die Forststraße geradeaus und verlasse damit die markierte Straße, welche zur Gschwendalm führt. Ich will auf anderem Weg ebenfalls zur Alm gelangen.

In einer Kehre falle ich von der Straße ab und hoffe, die in den Karten eingezeichneten Steigspuren zu finden. Das gelingt mir nicht. Nicht ein Hauch von Trittspuren ist zu erkennen. Auf unverhandenen Spukspuren steige ich so lange hoch, bis ich von aufragenden Felsen abgedrängt werde und völlig überraschend…

…auf diesen Ziehweg stoße. Und ich spüre es gleich in meinem sensitiven Wünschelruten-Urin, dass ich den bloß so lange entlang wandern muss,…

…bis an seinem höchsten Punkt, mit Steinmännchen versehen, ein einladender Pfad auf den Rücken des Alterskogels abzweigt.

Er ist zwar jetzt nicht eine Kärtnerstraße unter den Fußwegen, aber man weiß immer, wo man gehen soll.

Und am Rücken angelangt, gibt es sogar Schilder, welche meinen Aufstiegsweg zum Abstieg ausweisen – eines ist ganz neu.

Damit noch nicht genug. Auch die Gschwendtalm wird angezeigt und ein sonst nirgends verzeichneter Weg ins Restental. Jetzt bin ich baff, darüber habe ich weder in Büchern noch im Netz Informationen gefunden.

Dort oben am Bergbuckel ist jetzt jeder Schritt ein Vergnügen, und…

…wieder einmal, viel zur rasch, bin ich am Umkehrpunkt.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Alterskogel (916 m). Dieser Gipfel verzichtet auf alle visuellen Mätzchen…

…und ist einfach nur Wald. Gleichwohl ein sehr lebendiger.

Wie in einem Scheibenwelt-Roman von Terry Pratchett beschrieben, spüre auch ich das Frühlingsprickeln im Wald,…

…das hier tausend Tonnen Saft durch zwanzig Meter Holz schicken kann.

Ich wandere zu den Tafeln zurück und am Rücken weiter, bis der Pfad in eine Forststraße mündet. Dieses Sträßchen ist in der Kompass-Karte nicht eingezeichnet, jedoch in der Eichamtkarte sehr wohl und führt direkt zur Gschwendtalm. Als Information für Wanderer, welche von der Gschwendtalm auf  den Alterskogel wollen: Keine hundert Meter, nach diesem Steinbruch…

…in einer starken Kurve, angezeigt von einem kleinen Steinmännchen, führt der Steig links weg.

Für einen kurzen Moment geben die Bäume den Blick auf den Teufelszaun frei. Über diesen soll ein unmarkierter Steig auf den Gamsstein führen. Den werde ich mir auch einmal aus der Nähe ansehen.

Schon länger als 350 Jahre genutztes kultiviertes Almgelände empfängt mich.

Dass Bäume Freude ausstrahlen können, sieht man an diesen Buchen. Und dieses Vergnügen am Frühsommer überträgt sich auf jeden, der vorbeikommt. Ich strahle über’s ganze Gesicht. Wieder und wieder unbekannte Vogelrufe.

Die Forststraße verliert leicht an Höhe in Richtung Gschwendtalm. Darum wandere ich in der Wiese weiter. Hier irgendwo habe ich ohne es zu „spüren“, den Dreizipf (1031 m) überschritten. In alten Karten oder auch im Eisenwurzenführer von Lenzenweger findet er Erwähnung.

Das Sonnen-Tipp-Ex hat weder bei den Wolken noch bei den Schneefeldern in den Haller Mauern so richtig gewirkt.

Die Betriebsamkeit auf der Alm ist nicht zu überhören. Überall wiederholen sich Frühsommerrituale: Bei mir daheim holen die Nachbarn ihre Schildkröten aus den Winterquartieren, den dunklen Kellern, und hier die Bauern ihre Kühe aus den warmen Ställen. Reptilien und Hornträger begrüßen das.

Eine kleine Auswahl von Geräuschen wird hochgespült. Das Läuten von Kuhglocken, das dazugehörige Muhen, dazwischen Männerstimmen und das schlagende Tuckern eines Traktordiesels.

Die Kühe sind vom Transport ganz durcheinander und tun noch gar nicht, wofür sie da sind, Gras fressen und Milch produzieren.

Das habe ich zur Abwechslung einmal klug eingefädelt. Ich bin nicht auf der Forststraße zur Alm abgestiegen und den markierten Steig hochwandert, sondern habe die Wiese gequert und den Pfad ohne mich hochklettern lassen. Jetzt erst betrete ich ihn.

Es folgt ein steiniges, steiles Wegstück,…

…das in die Forststraße bei der Jagdhütte mündet.

Nur noch dieser grüne Hang hinter der Jagdhütte steht zwischen mir und dem Gamsstein, wenn da nicht noch ein anderer Gipfel wäre.

Das Gamsstein Köpfl liegt um drei Meter höher als der Gamsstein und ist in wenigen, kurzweiligen Minuten am „Danzersteig“ in Richtung Ennserhütte erreichbar.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Gamssteinköpfl (1278 m). Schon einmal war ich hier, über den zuvor erwähnten Danzersteig aus der Gegenrichtung kommend. Anregend war diese Wanderung, daran erinnere ich mich jedoch nur noch bruchstückhaft.

Nach dem Auspacken des Gipfelbuchs sitze ich minutenlang geruchgefühlt im Kaffeehaus.

Nur mit wohligen und ein wenig verschwitzten Gefühlen erinnere ich mich an meine Dürrensteigkammüberschreitung im Vorjahr.

Es ist diesig, und auch Wolken fühlen sich nah den Gipfeln sehr wohl.

Den Höhenberg (1320 m) betrachte ich noch länger, weil mich sein Besuch schon lange unter den Wanderschuhsohlen juckt. Ich wandere das kurze Stück zurück und besteige meinen heutigen „Hauptgipfel“, obwohl ja das Gamsstein Köpfl drei Meter höher aufragt.

Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Gamsstein (1275 m). Hier winkt ein Gezeichneter, der noch nicht davon weiß, dass er das ist. Während ich in die Kamera grüße, fließt mir der rote Lebenssaft in den linken Schuh. Was ist geschehen? Wovon habe ich keine Kenntnis, obwohls mir sehr nahe geht?

Der Stacheldrahtzaun liegt in der Wiese, weil er noch nicht hochgezogen wurde. Auf der ganzen Alm wird an den Zäunen gearbeitet. Ständig kann man das Klopfen der Hämmer vernehmen. Ich stelle meine Kamera außerhalb des Hags und habe keine Ahnung vom groben Vorhaben des Zauns. Wie ich fürs Foto in Stellung laufe, strauchle ich kurz, als hätte mir ein Kind ein Bein gestellt, nicht mehr. Dieses Stolpern hat jedoch der Zaun verursacht damit mir zwei Zaunstacheln, mit schnellem Schnitt, durch die Hose, tief in den Unterschenkel  schneiden können. So flink, so fein, dass ich nichts davon bemerke. Dieser Zaunchirurg versteht sein Handwerk. Erst nach dem Fotografieren fühlt sich mein linker Socken nass an, als wäre ich durch einen Bach gewatet. Auch das Hosenbein wird feuchtschwer.

So werde ich dann doch auf hocheigentümliche Weise zu Fall gebracht.

Mit mild-perversem Interesse sehe ich zu, wie das Blut aus mir herausrinnt als wär’s das Fleisch eines anderen, den Wandersocken tränkt, den Schuh füllt und übergehend auf den Boden tropft – banale Lust am Zusehen.

Das wäre jetzt nicht so schlimm, wäre da nicht ein sich forterbender Gendefekt, welcher auch bei mir Halt gemacht hat. Wegen dieser genealogischen Unpässlichkeit werde ich fortlaufend, künstlich zum Bluter medikamentiert. Jetzt neigt mein Blut, ganz gegen seine ursprüngliche Natur, nur noch zum flüchtigen Verweilen, es ist sehr ins Fluide verwandelt.

Dass mein Blutfluss gegebenenfalls nur schwer anhaltbar ist, macht die Sache ernster. Ich verschaffe mir einen Überblick über die Tiefe der Wunde, die beeindruckt mich nicht sehr, und krame mein Verbandszeug aus dem Rucksack.  Das sieht jetzt nicht sehr umfangreich aus, genügt aber in seiner komprimierten Form vielen Eventualitäten. Operationen am offenen Herzen gehen sich mit den darin befindlichen Materalien nicht aus, aber eine einfache Organtransplantation würde ich mir schon zutrauen.

In meiner Vorstellung mutiere ich jetzt zum Henry Dunant der OÖ-Voralpen. Mit einem innerlichen Tatütata verwandle ich mich gedanklich zum Notarzt, in der gelebten Praxis doch eher zum Sanitäter-Lehrling. Eine gewisse Ungenauigkeit des Denkens und Verbindens ist in solch einer Situation leicht verzeihlich.

Meine Frau wird den Verband nicht ganz geglückt finden (ein Taschentuch ist keine keimfreie Wundauflage usw.). Aber das wirklich Entscheidende wird sein, dass es mir gelungen ist, den Blutfluss zu stoppen. Das werde ich erst später feststellen können. Wenn das wieder gut ausgeht, war’s maximal der Ellbogen:

© Gary Larson, The Far Side.

Das Gehen, so merke ich zu meiner Genugtuung, bereitet mir keine Mühe, und schon bald bin ich im Wiesenhang oberhalb der Alm.

Die Geschwendtalm (954 m) wartet verheißungsvoll auf mich. Sollte mich immer noch Blut verlassen, werde ich auf der Alm den Verband erneuern und mein Bein eine Zeit lang hoch lagern.

Auf der Alm stelle ich fest, dass das Bluten aufgehört hat und dass ich ein Hans im Glück bin, der jetzt auch noch Trostgold in einer Suppenschüssel findet.

Man muss bei solchen Geschehnissen auch an die Seele denken, die weiß oft gar nicht, wie ihr geschieht, wenn man sich verletzt. Und um die kümmere ich mich jetzt. Ich spendiere ihr diesen güldenen Kaspressknödel und kann damit mein schlaffes Seelchen hätscheln und wieder aufrichten.

Zwei anmutige junge Frauen schmeißen den Betrieb auf der Gschwendtalm. So wie früher, wo vor allem junge Mädchen als Schwoagerinnen die Verantwortung für das Vieh auf der Alm übernommen haben. Und so wie früher kann es schon sein, dass diese Alm eine Überzahl an männlichen Besuchern aufweist, denke ich mir beim Umschauen. Es ist viel mehr männliches Volk auf der Alm, als ich hier zeige. Gekonnt habe ich an fast allen vorbeifotografiert.

Am Nebentisch freut sich einer seines Lebens mit genussvoll verzogenem Gesicht, offenem Mund und auch sonst äußerst ursprünglichen Tischmanieren. Auch das ist Freiheit am Berg.

Die schon frühmorgens heraufbeförderten Kühe haben die Aufruhr bereits hinter sich und sind vom Aufgeregtsein sichtlich erschöpft.

Während die gerade erst in die Almfreiheit entlassenen Tiere in diesem großen grünen Käfig herumtigern und unrastig hin- und her wandern. Was bei den sonst so gemächlichen Kühen mit ihren riesigen Eutern und wuchtigen Körpern einen irritierenden Anblick bietet. Auf der Suche nach ihrer Mitte durcheilen sie die ganze Alm, das ist schon wieder fast ein wenig menschlich. Manche Menschen durcheilen ganze Länder und Kontinente auf der Suche nach sich selbst, und finden sich nicht.

Alles lasse ich jetzt hinter mir, und schon bald…

…schluckt mich der Wald. Am markierten Normalweg wandere ich ohne große Umschweife übers Sandeck hinab zur Gschwendthöhe, zu meinem felswandgrauen Vauwe.

Ich hätte so gerne einen martialischen Tourenbericht verfasst, die Zutaten wären vorhanden gewesen: Berg, Alm, Einsamkeit, Stacheldraht, Schmerz, Heimat, Blut, Baum und Kreuz. Jedoch weiß ich so wenig damit anzufangen. Blut-und-Boden-Literatur kann ich nicht lesen und wie ich jetzt weiß, schon gar nicht, auch nicht scherzhalber, schreiben.

P.S. Für den Titel dieses Blogeintrags habe ich Aschenputtel nachgelesen und war vom unversöhnlichen, bitterbösen, rachsüchtigen Ende dieses Märchens entsetzt. Vermutlich bin ich ein völlig verweichlichtes Naturträumerle. Das wäre der Bildstoff für einen Splatterfilm. So haben das die tschechischen Märchenverfilmer und Walt Disney nicht erzählt:

„Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und teil an seinem Glück nehmen. Als die Brautleute nun zur Kirche gingen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite: da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. hernach, als sie herausgingen, war die älteste zur linken und die jüngste zur rechten: da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag bestraft.“

Im Anstieg etwa 725 Hm und zurückgelegte Entfernung nahezu 10,7 km.

Senf dazu? Sehr gerne!

blog@monsieurpeter.at


Darf’s ein bisserl mehr sein?

Weitere Unternehmungen in der Region Reichraminger Hintergebirge & Sengsengebirge (Auswahl):

Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.

Meine Quellen:

Ausschnitt aus Kompass Logo Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.

Die Bildbeschriftung erfolgte mit:
PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Ⓒ Christian Dellwo.

Sieghartsleitner(2000): Wandern rund um den Nationalpark Kalkalpen. 45 sorgfältig ausgewählte Familienwanderungen. Ennsthaler Verlag, Steyr.

Neuweg/Peham (2004): Schutzhütten Touren, Wanderwege, Geschichte. Verlag Ennsthaler, Steyr.

Lenzenweger (2009): Eisenwurzen, Nationalpark Kalkalpen. Wanderführer, Bergverlag Rother, München.

Heitzmann, Harant (1996): OÖ-Voralpen. OeAV-Führer, Ennsthaler Verlag, Steyr.

Radinger (2009): Wandererlebnis Kalkalpen mit Haller Mauern. Residenz Verlag, St. Pölten.

Brüder Grimm (1997): Kinder- und Hausmärchen, Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich.