Was hat schweres Klettern im Ennstal mit Monsieur Peter zu tun? Bei meinem Ungeschick am Felsen natürlich nichts, aber fremde Federn, noch dazu, wenn sie aus der eigenen Familie stammen, stehen mir einfach zu gut. Darum gibt es innerhalb dieser Tourenbeschreibung eine gewaltige Zeitschleife zurück in die 80er und 90er Jahre, zu den Kletterpionieren, welche bereits vor über zwanzig Jahren, in hautenger papageibunter Kleidung, den zehnten Schwierigkeitsgrad beherrschten.
Schönes Wetter ist für diesen Krampustag angesagt. Ich hole Stefan von seinem neuen und Reinhard von seinem alten Zuhause ab. Weil ich nicht angegurtet bin, wird das Piepsen der Angurtwarnung immer lauter und hektischer. In unseren morgendlichen Schlafohren eskaliert es regelrecht. Stefan findet selbst in diesem Getöne eine musikalische Entsprechung: „Spannend. Das hört sich wie Philipp Glass auf Speed an.“
Wir fahren nach Reichraming und parken vor der Brücke beim ehemaligen Holzrechen. Wir wandern über diese und finden…
…gleich beim ersten Haus einen Markierungspfeil. Er zeigt den Pfad zum…
…Schützensteig an. Dieser Steig führt einen Kilometer entlang des Reichramingbachs. Also verlassen wir ihn sogleich und stapfen weglos hoch.
Wider unserer Hoffnung findet sich einfach kein Pfad. Frisch aufgeforstet ist die Gegend und ganz schön verwuchert.
Nebelreste und die weglose Wildnis lassen meine Karl-May-geprägte-Fantasie anspringen. Mich beschleicht mit jedem Schritt ins Unwegsame mehr und mehr ein Gefühl des Beobachtetwerdens.
Verfilztes Gelände allüberall.
Unbepflanzte Ecken nutzen wir als Sammelpunkte.
Der Nichtweg bleibt wehrhaft. Nur das stete Rascheln der trockenen Buchenblätter wird immer wieder von Stefans Freudenrufen übertönt. Mit seiner Spezialhose macht er Jagd auf die hier vorkommenden Bio-Pokemons.
Über jedes einzelne dieser freilebenden Bio-Pokemons (keine blinkenden Pixeltiere) freut er sich wie ein Schneekönig, und für mich ist er der eigentliche Erfinder von Pokémon Go.
Endlich verlassen wir die nassgraue Nebelzone samt ihren Verwachsungen.
Und weil wir so energisch hochstürmen, fallen die verfrorenen Herbstgrillen vor Schreck von den goldenen Gräsern.
An der Nebelgrenze tauchen wir in eine eigenwillige, streichelwarme Lichtstimmung. Der Waldrand mit seinen Steigspuren ist endlich erreicht.
Ehrfurchtsvoll verneigt sich das müde Gras vor meinen Schritten, und am Waldrand…
…legen Schneerosen einen jahreszeitlichen Fehlstart hin.
Bald schon muss ich akzeptieren, dass ich in der Kunst, auf einen Berg zu laufen, meinen Freunden wieder einmal unterlegen bin.
Es waren nur die ersten Höhenmeter im Gesträuch unwegsam. Jetzt ändert sich das. Es gibt nicht nur feine Fels-, Firn- und Eisgrate, sondern auch begehenswerte Baumgrate. Der Kamm zieht fast vierhundert Höhenmeter hoch.
Eine Forststraßenkehre streifen wir nur, und erst über dem Schüttberggraben mündet unser Steig in einer Forststraßenwindung. Hier finden wir das Gegenstück zum städtischen „herrenlosen Damenfahrrad“, nämlich den waldlichen „bodennahen Hochsitz“.
Ich kann es noch nicht lassen. Genial finde ich das (Alogismus):
„Nachts ist es kälter als draußen! Wenn es nachts kälter ist als draußen, sollte man lieber zu fuß, als bergauf gehen, weil es dann nicht so dunkel ist. Obwohl bergauf ist eigentlich näher, als zu fuß. Und vor allem ist es wärmer, als bergab…“ (Verfasser unbekannt)
Am Ende der Forststraße, am Schüttberg, steht die Ortbauern Jagdhütte (1020 m). Die macht einen besonders zusammengeräumten Eindruck. Geschniegelt und gestriegelt steht sie wie neu in der Leiten. Einen Schüttberggipfel können wir nicht ausmachen. Darum wandern wir ohne Aufenthalt hinter der Jagdhütte, auf einem Ziehweg, weiter hoch.
Das Gelände öffnet sich zu einem sonnigen Schlag.
Wir staunen über mächtige Baumbesonderheiten und Baumskurilitäten und den ersten richtigen Ausblick auf dieser Tour.
Wir blicken auf den Schieferstein (1185 m), und Stefan macht mich auf die unscheinbaren Felsen links im Bild aufmerksam. Auf diesen Felsen (Pfenningstein, Hackermauer, Toblinowandl (Topolinowand), Hackerschädel) wurden in den 80er/90er Jahren Kletterpioniertaten vollbracht.
In einer Zeit, als man sich zum Beispiel Selfie-fotografieren so vorstellte…
…und Kletterhallen noch nicht erfunden waren, fand schweres Sportklettern ausschließlich am Felsen statt.
Das mediale Flaggschiff dieser Tage war das deutsche Rotpunkt Klettermagazin. In dieser Zeitschrift fanden sich neben Berichten zu den Klettermekkas in Frankreich, Italien und USA auch bildreiche Geschichten über eben diese Felsen vor uns.
Die Zeitschrift berichtete mehrmals von den schweren Routen im Ennstal. Die schwerste Route dieser Zeit kletterte mein Bruderherz Klaus Sonnleitner:
First class 10+ Eine überhängende Wandkletterei an schlechten Leisten im Schwierigkeitsgrad 8b+ und das immerhin vor über zwanzig Jahren. Mehr als acht Jahre vergingen bis zur ersten Wiederholung. Bis heute wurde diese Route nicht oft geklettert.
Namen wie Pfaffenbichler, Havelka, Schirl, Bräuer, Göberl, Blasl, Steinwendner, Aichinger, Zeindl und Duda sind mit der Erschließung harter Routen in diesem Gebiet untrennbar verbunden. Manchen Lesern mag Armin Duda bekannt sein. Armin übernahm in dieser Zeit den Vertrieb einer kleinen völlig unbekannten Sportartikelfirma in Österreich: Mammut. Der hohe Stellenwert dieser Firma gerade in Österreich gründet sicher auch in seiner kompetenten Aufbauarbeit. Chapeau Armin!
Auf einer der besten Kletterseiten im Internet findet sich (fast) alles zum Klettern im Ennstal: klettern-im-ennstal.at
Es war für mich gar nicht so einfach, diese alten Rotpunktmagazine zu finden. Mein Dank gilt Georg Blasl, dem Wirten des damaligen und heutigen Zentrums der Kletterszene in Losenstein: Gasthof Blasl
Die Berichte aus Rotpunkt finden sich im Epilog zu diesem Blogeintrag. Vor allem den dreiseitigen Artikel von Iris und Hermann Erber finde ich interessant. Ich danke den Autoren herzlich für die unkompliziert erstattete Erlaubnis zur Veröffentlichung.
Unsere Realität sieht jetzt etwas banaler aus. Wie eine krumme Pflugschar haben Traktorreifen den weichen Waldboden durchschnitten. Nur halb zugefroren bricht das Eis mit lautem Krachen immer wieder unter unseren Schritten. Im Schatten frieren unsere Nasenspitzen.
Hinter der winternden Kautsch-Jagdhütte (1160 m) ist der Fahrenberg (1253 m) und die aufspitzende Brunntalmauer (1183 m) zu sehen. Diesen Kamm habe ich mit Reinhard im November 2013 schon überschritten.
Noch wenige Schritte im Schattenschnee, und wir gelangen wieder zu einer Lichtung.
Nebelschwaden und Gegenlicht verblauen das vertraute Gesäuse zu Scherenschnitten am Horizont.
Es ist nicht mehr weit zum ersten Gipfel. Und weil Reinhard unser Sachverständiger in Sachen Wegfindung ist, konsultiert er sein GPS. Uns scheint vernünftig, was er sagt, und ohne Gegenrede folgen wir nach seiner Anweisung…
…der flüchtenden Gams (Bildmitte), denn ein kurzer Abstieg ist erforderlich. Nicht weit, und bald schon steigen wir…
…zum Gipfelgrat an.
Ein baumfreier Gipfel, wie man ihn sich auf solchen Waldbergen nicht besser wünschen kann. Irgendwo am Grat überschreiten wir auch den höchsten Punkt.
Reinhard und Stefan posieren bereits am geplanten Rastplatz,…
…und ich komme wieder einmal (fast) zu spät: Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Schneeberg (1244 m).
Es ist unglaublich warm und völlig windstill. Wie Krokodile auf einer Sandbank in der Flussmitte verteilen wir uns am Gipfel. Jeder hat so seine Art, diesen wundervollen Dezembertag zu genießen. Reinhard räkelt sich halb liegend, weichgebettet im warmen Sonnenlicht.
Im dünnen, kurzärmeligen T-Shirt erfreut sich Stefan an seinem gut befüllten Mohnweckerl und an der herrlichen Aussicht.
Ich gebe mich meiner ausufernden Trägheit hin, diese würde zwar viel besser in tropische Weltgegenden passen, aber heute geht es auch hier ganz gut.
Nicht nur Picasso hatte seine blaue Periode (Dächer über Barcelona),…
…auch die Ennstal Alpen lieben solche Phasen (Gesäuse über dem Ennstal).
Blick zum Ramsauer Größtenberg (1458 m) und Hohen Trailing (1237 m)
Nochmals der Fahrenberg (1253 m) mit der Brunntalmauer (1183 m).
Soviel Gegend, in der wir schon waren und noch mehr, wo nicht. Baumland.
Ganz nah ist der Kamm mit dem Schoberstein (1285 m).
Weil die Tage im Dezember kurz sind und unsere Schatten immer länger werden, beenden wir nach einer Stunde unsere Gipfelrast und wandern über die Weideflächen der Kalblsaualm in Richtung der Abbrüche über Reichraming.
Blick zurück zum Gipfel.
Wir können der Landschaft beim Langsamerwerden zusehen. Erst der Schnee wird sie ganz zum Stillstand bringen.
Wenige weglose Meter noch diesen Gegenanstieg hinauf, und wir befinden uns auf der Tannscharten.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Tannscharten (1211 m).
Es finden sich alte Markierungen und Pfadspuren am „Grat“.
Noch bevor wir zu einem Jägersteig gelangen (in manchen Karten eingezeichnet), führt ein gut sichtbarer, dunkelerdiger Pfad durch den Wald zur nächsten Forststraße.
Auf einer Forststraße und drei Abkürzern…
…schlendern wir durch den Gschliffner Graben…
…und Sulzbach zu unserem Auto zurück.
Ganz am Schluss unserer Wanderung treffen wir noch auf die größte Markierung, die ich je gesehen habe.
Im Anstieg ca. 1010 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 14 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Reichraminger Hintergebirge & Sengsengebirge (Auswahl):
- Großer Quenkogel, Trompetenmauer, Wasserklotz und Astein
Großer Quenkogel (1254m), Wasserklotz (1505m), Astein (1419m) - Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben oder eine Biwaknacht & zehn Gipfel am Dürrensteigkamm: Teil 1
Bodenwies (1540m), Hochzöbel (1373m) - Bei Windhundewetter am Dreispitz (1140 m)
Bärenkogel (957m), Seekogel (1062m), Dreispitz (1140m) - Auf nichts sonst mehr war ich aus: Kleinzöbel (1099 m)
Kleinzöbel (1099m) - Wie eine botanische Hinterlist den Pfad versteckt und mir trotzdem eine durchwachsene Wanderung auf das Federeck (1340 m) gelingt
Federeck (1340m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Die Überschrift: „Westlich des großen Baches“ stammt aus dem OeAV-Führer von Heitzmann, Harant.
Leo Himsl danke ich für die Bilderlaubnis: S/W-Bild Klaus Sonnleitner in der Route First Class).
Heitzmann, Harant (1996): OÖ-Voralpen. OeAV-Führer, Ennsthaler Verlag, Steyr.
Die großartige Seite mit Routenbeschreibungen, Downloads usw.: Klettern im Ennstal. (abgerufen am 2.12.2016)
Helmut Seiringers etwas andere Variante findet sich hier: Tannscharten (abgerufen am 3.12.2016)
Diese ganz ähnliche, um zwei Gipfel erweiterte Tour, kann man auf Manfreds Seite nachlesen. (abgerufen am 2.12.2016)
Und natürlich auch bei Leopold: Schneetreiben auf Schneeberg bei Reichraming. (abgerufen am 2.12.2016)
EPILOG
Im Heft vom Jänner 2001 finden sich nicht nur Kletterdestinationen in Marokko, Thailand oder Puerto Rico beschrieben, sondern auch…
…auf vier Seiten das Ennstal.
PDF dazu: ennstalerber1
PDF dazu: ennstalerber2
PDF dazu: ennstalerber3
PDF dazu: ennstalerber4
Im Heft von 1994 wird die Region erstmals so richtig vorgestellt.
PDF dazu: unteresennstal1
PDF dazu: unteresennstal2
FIN