Die Gegend rund um Neuhaus scheint mir eine von der Zeit vergessene zu sein. Das zeigt sich schon an der unmittelbaren Nähe (nur 6 km entfernt) des großen Urwalds an der Südseite des Dürrensteins oder an den wiederholten Bärensichtungen vor wenigen Jahren. In der Nähe entspringt die Ybbs (Weiße Ois) und an den Ufern des Faltlbaches und Höllertalbaches blüht im Übermaß der Gelbe Frauenschuh.
Die Wanderung zu diesen Orchideen an den Ufern der verspielten kleinen Bäche ist für Gabi und mich eine unserer liebsten Touren. Heute habe ich aber den Hochwald auf der Nordseite von Neuhaus zum Ziel. Von der höchstgelegenen Pfarrkirche Niederösterreichs (1000 m) sind es noch 1,5 km auf der Straße am Zellerrain nach Taschelbach.
Gleich neben der Bundesstraße parke ich mein Auto. Überall befinden sich riesige Holzstöße. Holz ist seit Jahrhunderten das Gold der Region.
Bis in den Nachmittag soll der Himmel ruhig und das Wetter perfekt sein. Von Westen schleicht sich allerdings eine Schlechtwetterfront an. Aber wer schleicht, ist nicht schnell, und so habe ich die Chance, vielleicht auch einmal einen Wettlauf zu gewinnen.
Mein erstes Ziel ist der bewaldete Scheiblingwald (nomen est omen). Mich hält es nicht lange auf der Forststraße, und im gut gängigen Gelände kürze ich ab. Ich quere weitere, nicht in der Karte verzeichnete Forststraßen, und mir begegnen strenge Gerüche. Immer bedrängender und intensiver wird das Aroma, und schon bald treffe ich auf den Ausdünster.
Ein schwer arbeitendes Pferd schwitzt allein so viel, wie eine vollzählige Hobby-Fußballmannschaft im Hochsommer. Junge Rumänen leisten hier harte Arbeit, ähnlich den Holzknechten vor hundert Jahren. Freundlich sind die Burschen, und im gepflegtesten Kauderwelschenglisch versuchen wir eine Unterhaltung.
Lange bleibe ich fasziniert stehen und beobachte…
…die enge, vertraute Zusammenarbeit der beiden.
Wie ein Rasenroboter mit Funktionsstörung, ganz ohne Orientierung, irre ich im Kreis durchs Unterholz, weil der Gipfel nicht dort ist, wo ihn mein GPS ausweist. Ich versuche auf den höchsten Punkt nach Gefühl zu gelangen.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto am gefühlt höchsten Punkt: Scheiblingwald (1257 m).
Nach einer letzten Beobachtungsviertelstunde verlasse ich die Holzknechte mit ihrem tierischen Partner…
…und steige in nördlicher Richtung zur nächsten Forststraße ab. Bald erreiche ich die wunderbare Scheiblingwiese.
Weiter bummle ich durch den Hasenwald, immer südseitig, ganz ohne Schneekontakt,…
…aber mit wunderbarer Aussicht…
…zum nur wenige Meter neben der Forststraße liegenden höchsten Punkt der…
…Rohrwiesmäuer (1308 m).
Ich gehe wieder einige Meter zurück, um auf diesen baumfreien Rücken zu gelangen.
Letzte Schneebatzeln schmelzen in der Sonne, und die Wärme des frühen Vormittags wandelt sich langsam in vormittägliche Hitze.
Der kleine bewaldete Mugel im Vordergrund ist der soeben besuchte höchste Punkt der Rohrwiesmäuer (1308 m). Dahinter der wunderbare Rücken mit dem Hochreiserkogel (1484 m), Bärenleitenkogel (1635 m), Scheiblingstein (1622 m) und der Scheibe (1602 m). Meine Überschreitung dieser Gipfel schildere ich hier: Im steinigen Vorgarten des Dürrensteins: Auf den Lunzer Scheiblingstein (1622 m)
Links im Bild sind die Zeller Hüte (1639 m) zu erkennen. Den weißen Hintergrund bildet der Hochschwab. Der bewaldete Berg im Vordergrund ist der Zwieselberg (1436 m), und rechts dahinter ragt der Dürrenstein (1878 m) auf.
Am Scheiblingwald vorbei kann ich auf die Bundesstraße und den Zellerrain (1121 m) sehen.
Mit der Höhe und den freien Flächen komme ich immer mehr in den Schnee. Hinter dem Jagdstand, nur wenige Meter entfernt, ist der höchste Punkt…
…der Buchalm (1483 m).
Jetzt ändert sich das Bild völlig. Nordseitig versteckt sich meterhoher Schnee. Ich habe keine Schneeschuhe und auch keine Gamaschen mit. Meine Tourenplanung ist wie meine Beistrichsetzung stark verbesserungswürdig. Ein feuchtfröhliches Vergnügen habe ich bei dieser Wanderung ohnedies nicht erwartet, aber ein fußfeuchtes brauche ich jetzt auch nicht.
Knietief im Schnee setze ich die Wanderung fort und gelange…
…rasch auf den Pfalzlkogel (1403 m). Sobald die Hangausrichtung südseitig ist, verschwindet der weiße Rest vom Winter. Dafür ist er allerdings…
…nordseitig sehr tief- bzw. hochgestapelt vorhanden. Das ist jetzt ein wenig mühsam.
Liselotte Buchenauer meint zu den Wäldern um Mariazell: „In diesen hohen Wäldern, die nur wenig begangen sind, dürfen wir mit Staunen erkennen, daß es noch immer die echte, alte Waldheimat gibt. Wohl haben hie und da große Forststraßen den Berg zerschnitten, und auch manches Wegzeichen ist ihnen zum Opfer gefallen (…) doch vermögen diese Straßen der Wälderstille wenig anzuhaben.“
Ich gehe jetzt auf den Ötscher (1893 m) und die Feldwiesalm zu.
Im freien Gelände kann ich den Schneeflecken um die Feldwiesalm beim Schwinden zusehen. Dagegen werden die Wolkenschafe am Himmel durch unsichtbares Futter immer größer und fetter. Der Wettlauf mit der Schlechtwetterfront beginnt in seine spannende Phase zu gelangen.
Ich halte mich an die südlichen Ränder meines nächsten Ziels. Hier ist der Schnee weniger tief.
Aus den „baazwachen“ Schneefeldern ragt die schneefreie Südseite des Kleinen Ötschers (1552 m).
Die letzten Höhenmeter gebe ich derart Gas, dass ich fast über mein Ziel hinausschieße.
Yepp – meine Goganzsammlung ist komplett. Somit habe ich meine erste selbstdefinierte Gipfelliste vervollständigt. Sie besteht zwar nur aus zwei Positionen, aber Liste ist Liste. Ich habe noch genug Goganz, auch für andere Sammler, übriggelassen. Sammelgipfel selbst zu definieren und darauf los zu wandern, ist ein wirklich exquisites Vergnügen. Viele verspielte Ideen zum Bergesammeln gibt es bei Andreas auf bergliste.at.
Kauziger Gipfelfotoknipser mit ungebrochenem Frohsinn am Goganz (1434 m).
Wie schon bei meiner ersten Goganz-Eroberung so dahinphantasiert, löst dieser ungewöhnliche Name alle möglichen und unmöglichen Assoziationen in mir aus. Und selbst die Google Suchergebnisse sind anders, als bei anderen Bergnamen. Abgesehen vom Goganz bei Gresten, legt mir Google solche Suchergebnisse auf den Bildschirm:
CS GO ganz normal mit Freunden spielen……: Counter-Strike: Global .
Vegan to go ganz lecker…
LIFT AND ROLL: Das Lifting to go – ganz ohne Skalpell – LIFT AND …
No-go! Ganz schlimm. – cha chà- Thai Positive Eating – Metalli, Zug ..
- Heiße Luft: 3 Gründe, warum Pokémon GO ganz sicher scheitern wird …
Schnitzel-to-go, ganz praktisch mit Henkel…
Woher Holzhüttenboden seinem Name hat, erklärt sich aus diesem Anblick.
Die Dürrensteinnordseite ist noch ganz in Weiß gewandet.
Den nahen Saurüssel (1348 m) werde ich ein andermal aufsuchen.
Auf diesem wintermüden und noch gar nicht frühlingshaften Gipfel bin ich heute das eye candy. Das passiert mir in meinem Wanderleben auch nicht oft. Nach einer ausgiebigen Rast steige ich wieder ab.
Rückblick auf die Buchalm (1483 m) und die Rotmäuer (1308 m).
Durch menschenleere Landschaften führt mich der Abstieg in Richtung Bettlertanz. Im tiefen Schnee einen Hang querend, erreiche ich mühsam die völlig schneebedeckte Forststraße. Auf dieser bleibe ich allerdings nicht, denn…
…mit meiner Obsession muss ich auch auf diesen Gipfel.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Jägerberg (1366 m).
Trotz langer Phasen der absoluten Einsamkeit, gab es in der Landschaft um Neuhaus auch sehr bewegte Zeiten. So schreibt Karl Weidemann in seinem 1836 erschienenen Buch:
„Neuhaus ist ein ärmliches Dorf, hat aber ein großes Wirtshaus, hier nach Holzknechtssitte „Taverne“ genannt; ein Hauptsammelplatz der Holzknechte dieser Gegend, und der Wallfahrer von Zell nach Sonntagberge, welche hier Rast halten. (…) Die Gegend ist herrlich. Tief unten zur Linken rauscht der Alpenbach. Er hat sein Bett durch Felsen gesprengt. Hier heißt es „in der Klamm“. Zur Rechten ist immer Hochwald. Hier wurde im Jahre 1805 ein erbitteter Guerillaskrieg [sic.] zwischen den Holzknechten und den Nachzüglern der französichen Armee geführt, welche am 6.,7.,8., und 9. November hier durch nach Zell marschirte [sic.]. Es heißt eine Stelle hier im Wald noch heute „bei den Franzosengräbern“ und dort ruhen im Dunkel des Forstes, viele der gefällten Feinde.“
Ob ich heute schon über eines dieser Franzosengräber gewandert bin?
Ich stapfe weiter in eine kleine Einsenkung und quere den markierten Alpintour-Wanderweg. Weglos steige ich zum Grataufschwung auf den Sagerkogel.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Sagerkogel (1360 m).
Der müde, graue, pappige Schnee und der immer dynamischer werdende schiefergraue Himmel lassen mich hier mein Gipfelsammeln beenden. Steil steige ich direkt ab, um…
…über die schneebedeckten Weiden…
…zur theoretisch vorhandenen Forststraße zu gelangen.
Der Blick zurück zeigt meine einsame Spur im Schnee. Fünfhundert Meter westlich der Feldwiesalm gelange ich dann auf den bereits geräumten Teil der Forststraße.
Entlang fabulöser Schneegebilde…
…und spiegelnder Wasserlachen eile ich talwärts.
Sehr anschaulich zeigt dieses Foto die noch vorhandene Schneemächtigkeit.
Am Schluss dieser wunderbaren Wanderung treffe ich noch auf ein amüsantes letztes Kuriosum. Einem Baum-Exhibitionisten und seinem Verlagen, sich so unanständig wie möglich zu verhalten, verpasst seine schwächelnde Libido einen veritablen Dämpfer.
Dieser Bericht zeigt wieder einmal, dass ich praktisch alles kann, nur nicht kurz.
Schon wieder ein überlanger, uferloser Blogeintrag bei einer relativ unspektakulären Waldbergewanderung. Dabei habe ich so viel Bemerkenswertes weggelassen. Mein Plan wären ja kürzere Berichte, aber Pläne als solche zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie meistens in die Hose gehen – wie dieser Blogeintrag sehr gut zeigt.
Schon bald hämmern bei der Heimfahrt die ersten Regentropfen an meine Windschutzscheibe, und ich mache ein letztes Foto vom felsigen Goganzantlitz.
Im Anstieg ca. 810 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 17,5 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Ybbstaler Alpen (Auswahl):
- Prochenberg
Prochenberg (Kreuzkogel) (1123m), Haselsteinmauer (904m) - Im steinigen Vorgarten des Dürrensteins : Auf den Lunzer Scheiblingstein (1622 m)
Kleinreiserkogel (1393m), Hochreiserkogel (1484m), Bärenleitenkogel (1635m), Scheiblingstein (1622m), Scheibe (1602m) - Sonntagberg mit Schi
Sonntagberg (712m) - Eibenberg
Eibenberg (779m) - Nicht zu unterschätzen: der Noten (1640 m), mit der Strenge schon im Namen.
Noten (1640m), Gschwendmauer (1386m), Hochkogel (1246m), Stierkopf (1061m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
„Kauziger Gipfelfotoknipser mit ungebrochenem Frohsinn“ so lautete die Anrede von Manfred N. in einer SMS an mich.
Natürlich war Leopold schon lange vor mir hier: Taschelbachrunde über Goganz und Breinmauer. (Abgerufen am 16.5.2016)
Ideen zum Bergesammeln gibt es bei Andreas auf bergliste.at. (Abgerufen am 16.5.2016)
Baumgartner/Tippelt (2013): Wandererlebnis Ötscher, Ybbstaler Alpen. Kral Verlag, Berndorf.
Buchenauer (1971): Wandern in der Steiermark. Tyrolia Verlag, Innsbruck.E
Steffan/Tippelt (1977): Ybbstaler Alpen. AV-Führer, Bergverlag Rother, München.
Tippelt/Baumgartner (1985): Mariazeller Bergland, Ein Wander und Landschaftsführer. Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten.
Franz Karl Weidmann (1836): Wegweiser auf Streifzügen durch Steyermark und Österreich. Karl Armbrusters Verlag, Wien.