Wanderung am Freitag den 13. Soll ich Angst atmen und Furcht verspüren? Wie ein Amulett gegen das Böse halte ich ein Kalenderblatt in den Wind, wo das Gegengift rezeptiert ist. Darauf steht geschrieben, dass heute auch der Welt-Nettigkeitstag ist und der Tag des Apfels. Miteinander sind diese beiden sicher viel stärker, als so ein alleiniger Freitag der 13. Und weil ich keine Paraskavedekatriaphobie, sondern bloß eine Arbeitsphobie habe, mache ich mich auf den Weg.
Es ist 8:35 h, als meine Kamera mit dem Selbstauslöser diesen Augenblick festhält. Bei diesem Anblick stellt sich allerdings die Frage: Welcher Monat? Ist das ein Juni-, Juli- oder Augustvormittag?
Es ist ein absurd herrlicher Novembertag. Im Tal zeigt das Thermometer noch kühle -2,5 ° C an und am großen Parkplatz auf der Tauplitz bereits + 8,5 ° C. Ich rüste kleidungstechnisch gleich einmal ab und mache mich kurzärmelig auf den Weg.
Vier Stunden aufs große Tragl soll ich laut Tafel brauchen. Da darf ich keine Zeit verlieren, denke ich mir und bleibe gleich einmal staunend stehen. So schön ist der Großsee. Von einem leichten Eishauch berührt, leuchtet er in der Morgensonne.
Im Tiefschlaf befinden sich diese Pistenraupen nicht mehr. Sie sind bereits gut geölt und aufgetankt. Schon bald werden sie von den ersten Schneeflocken wachgeküsst.
Apropos wachgeküsst. Niemand, ganz und gar niemand ist zu sehen. Die ganze Tauplitz schläft wie das verwunschene Königreich in Dornröschen. Ich treffe keine menschliche Seele in der herbstgedehnten Landschaft.
Der weite und fast durchgehend asphaltierte Weg führt mich an herbstmüden Bäumen und winterfreudigen Wiesen entlang, den Traweng (1981 m) und den Sturzhahn (2028 m) im Blick, bis…
…zu den Steirerseehütten und diesem wunderbaren Anblick. Der felsige Rücken links im Bild ist der Grubstein (2036 m). Rechts im Bild ist der Roßkogel (1890 m) zu sehen.
Der Weiterweg bringt einen kurzen Abstieg zu den Hütten und führt auf der Forststraße hoch in die Seeleiten bis zu einer Jagdhütte. Dort ist die Schitourenwintermarkierung ausgeschildert. Diese gleicht zu Beginn auch dem markierten Weg aufs Große Tragl (2179 m).
Hier tausche ich die seltene Einsamkeit auf der Tauplitz gegen die beständigere Einsamkeit im Karst.
Ein letzter Blick zurück.
Immer bizarrer wird die Landschaft. Es gibt keinen Weg, nur einzelne Markierungen sind auf den blankgekehrten Fels getropft. Es herrscht allergrößte Reinlichkeit.
Tiefe Rillen mäandern durch ambagrauen Fels,…
…und manche Felsrippen gleichen aus der Nähe einzelnen Gebirgszügen der Alpen vom Satelliten fotografiert.
Der Steig führt östlich am Sturzhahn vorbei. Und nach der Überwindung einer Steilstufe…
…bekomme ich beinahe den Grauen Star.
Links von mir ragt die Ostseite der Tragln wie ein menschengeschaffenes…
…graugerilltes Artefakt auf. Eine graphitgraue Pyramide im Steindschungel. Vielleicht verbirgt sich ja hinter diesen Mauern ein europäisches Machu Picchu. Fabelhaft.
Diese Wanderung spürt sich völlig anders an, als alle anderen. Ich komme nicht sofort darauf, was es ist. Bis ich im Gefühl absoluten Alleineseins das Fehlen jeglicher Geräusche bemerke. Es ist völlig still. Mäuschenstill wäre schon viel zu laut. Das einzige Geräusch ist die Stille.
Ohne Bäume fehlen den Vögeln die Äste – kein Vogelgezwitscher. Im Karst fließen die Bäche unterirdisch – kein Wassergeplätscher. Der Himmel ist flugzeuglos und Satelliten tauchen U-Boot gleich lautlos durchs blaue Himmelsmeer.
„Es gibt eine Stille, in der man meint, man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen.“ (Adalbert Stifter)
Würde ich in eine der vielen Dolinen am Wegesrand rufen, wäre das Echo der einzig hörbare Laut. Ich rufe nicht, ich fotografiere. Ein lautloses Dolinenschattenbild.
Dieser weite Abschnitt nennt sich „In den Karen“. Der Weg besteht lediglich aus Markierungspunkten auf Steinen. Man kann gehen, wie man will, allerdings lauern Dolinen mit hungrigen Mäulern und riesigen Mägen am Wegesrand. Weiter von den Wandabbrüchen entfernt, etwas östlich von der Sommermarkierung, sind die Stangen der Wintermarkierung zu sehen. Im Winter heißt es möglichen Wechtenbrüchen von den steilen Ostwänden auszuweichen.
Etwas ramponiert, einarmig steht das Jungbauerkreuz mitten in der birkengrauen Landschaft. Gleich neben einer dieser Menschenfresser-Dolinen. In diese stürzte 1948 ein junger Schitourengeher. Das zeugt von der grausamen Ironie (Brutalität) des Schicksals: Den schlimmsten Krieg der Menschheit überlebt er, um kurze Zeit später sein kostbares Leben bei einer Schitour zu verlieren. Schauerlich mutet auch an, dass sein Leichnam erst 1978, also dreißig Jahre später, gefunden wurde. Diese Dolinen sind in einem undurchschaubaren Schachtsystem miteinander verbunden und zählen zu den ausgedehntesten Höhlensystemen in Österreich.
Der schmale „Eingang“ zur todbringenden Doline neben dem Kreuz.
Gleich noch viel vorsichtiger wandere ich weiter. Wie ein Chamäleon habe ich zumindest mit einem Auge die Markierung im Blick, und mit dem anderen bestaune ich die Gegend. Ist die Markierung im linken Bildteil erkennbar? Bei diesem Traumwetter ganz deutlich, aber bei Nebel oder an einem diesigen Regentag bestimmt nicht. Nach Überwindung einer Felsstufe…
…steht diese Tafel, sehr überraschend, in der Steinödnis.
Hildegardknefig ist diese Szenerie. Eine große herbe Landschaft ohne jede Üppigkeit, in angedeuteter maskuliner Eleganz, mit rauchiger Stimme – wäre es nicht so still.
Über Quadratmetergroße basaltgraue Steinplatten gelange ich zum Schwaigbrunn (2040 m). Hier schwenkt die Markierung, unterstütz von einer Tafel und vielen Steinmännchen links (westlich) ab. Interessant finde ich, dass auf dieser gelben Wegtafel das Große Tragl, wie in der AV-Karte, mit 2184 m angegeben ist. Andere Karten (BEV, Freytag & Berndt, Kompass) weisen den Gipfel mit 2179 m aus.
Durch die steinige Nordflanke quert der Steig im steilen Gelände. Ich gelange in die Nordseite, zum Traglhals. Und fast weglos…
…kann ich zum Gipfel hochwandern.
Obligatorisch und unverzichtbar, am stillsten Gipfel meines Wanderlebens: Gipfelkreuzfoto Großes Tragl (2179 m).
Ich blicke auf die Leerstelle, die große Auslassung im sonst so lauten, dicht bevölkerten, kulturschweren, industrialisierten Mitteleuropa.
Eisgraues Felsgebräu erstreckt sich meergleich spurenlos unterm Traglgipfel. Ich habe das Graumeer entdeckt.
Am gezackten blaugrauen Horizontrand kann ich die Spitzmauer (2446 m) erkennen. Namenlos ist diese Landschaft nicht.
Im Osten sind der Schrocken (2281 m) und die Mölbinge (2336 m) gut zu sehen.
Die Weiße Wand (2198 m), Plankermira (2176 m) und Hochweiß (2158 m) habe ich direkt vor mir. Und über die nahe Einsattelung in der Bildmitte könnte ich das westliche Scheiblingtragl (2151 m) oder den östlich gelegenen Bartlrücken (2136 m) besteigen.
Noch ein Zoom ins elefantengraue Gebirge – wieder mit der Spitzmauer im Bildmittelpunkt. Danach mache ich mich…
…ohne Rucksack auf den Weg zum nächsten Tragl. Über eine kleine Einsenkung ist es schnell erreicht.
Obligatorisch und unverzichtbar, sogar mit Gipfelkreuz: Gipfelfoto Kleines Tragl (2164 m).
Gerade noch kann ich das Gipfelkreuz des Großen Tragls erkennen. Dahinter leuchten die Westwände der Kraxenberge und der Briegelsberge.
Nördlich, gefühlt sehr nahe, wieder das Scheiblingtragl. Wenn es zeitlich vernünftig ist, will ich da heute auch noch hinauf.
Der Blick in den Osten zeigt mir den Traweng (1981 m) und die Spitze des Sturzhahns (2028 m).
Mit den aufkommenden Windböen beginnt der Himmel einen Wettstreit um meine Aufmerksamkeit mit der Landschaft unter ihm.
Mit ein paar weißen Strichen im Blau nimmt er seinen Anfang. Zuerst ist es nur eine rasierte Punkeraugenbraue, aber nur so lange,…
…bis die Wolkenpinsel immer dichter und flockiger weiß tupfen…
…und jeden Himmelsmeter damit bedecken.
Der Himmel hüllt sich in ein vorwinterliches Daunenkleid.
Als ein Hans Guck-in-die Luft komme ich auf dem Rückweg zum Großen Tragl nicht nur einmal ins Stolpern und Straucheln. Da ist jetzt nicht nur die Landschaft, sondern auch dieses Himmelskaleidoskop, das mich völlig in seinen Bann zieht.
Zurück am Großen Tragl beeile ich mich, weil ich das Scheiblingtragl zumindest versuchen will.
Ich steige wieder fast weglos zum Traglhals ab und suche mir durch den zerklüfteten Fels einen Weg zum Scheiblingtragl. Das ist jetzt viel schwieriger und aufwändiger, als gedacht. Viel zu lange brauche ich bis in die Senke vorm Scheiblingtragl.
Trotzdem gelange ich auf meine vorsichtige Weise, etwas mühsam, auf den Gipfel.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Scheiblingtragl (2151 m).
Ich bin der Alleinste der Welt!
Südlich sehe ich die heute schon bestiegenen Tragln.
Dachstein im Westen.
Weiße Wand, Plankermira und Hochweiß ganz nahe.
Jetzt beginnen den Minuten Läuferbeine zu wachsen. Mein Rückweg ist noch weit und gleich einmal kompliziert. In die Einsattelung links der Bildmitte muss ich über das zerklüftete Felsengewirr gelangen. Wie ich da heruntergekommen bin, ist mir jetzt ein Rätsel.
Dieses Gelände ist ein Augen-IXer. Damit meine ich, dass man in diesem Grau-in-Grau keinen Augenhalt, keinen Blickgriff findet. Es verschwimmt die Sicht in den hoch- und quergestaffelten Grautönen. Erst wenn man wenige Meter davor steht, kann man einen möglichen Weiterweg ausmachen, oder sogar…
…kittgraue Steinmännchen.
Wieder zurück in der grasigen Senke (Traglhals) fotografiere ich die ersten beiden Steinmännchen, welche diese wesentlich verträglichere Wegmöglichkeit anzeigen. Man darf aus der Senke nicht ansteigen, sondern muss ein kurzes Stück queren.
Die wenigen Höhenmeter auf den Bartlrücken lasse ich bei diesem schwierigen Gelände bleiben, weil mir einfach der Tag ausgeht. Urteilskraft ist das einzige, denke ich mir, das sich mit dem Alter immer weiter entwickelt.
Bei voll aufgedrehter Stille, mache ich mich jetzt endgültig auf den Rückweg.
In der Bildmitte das Jungbauerkreuz. Der Sturz in die Doline wundert mich bei diesem Anblick nicht. Mit einer leichten Schneeauflage hat man ohne Kenntnis der „Dolinen-aufenthaltsorte“ schlechte Karten – das ist ein wenig wie Minesweeper-spielen.
Nur der Mitterberg (1711 m) trennt mich noch vom gezackten Rücken des Hechlsteins (1814 m) und der Kuppe des Gwendlingssteins (1645 m).
Der pittoreske Steirersee ist auch noch dazwischen.
Der Tag ist jetzt schon weit fortgeschritten und wird von der Nacht abgelöst, die,…
…wenngleich noch brandhell, doch schon ihre Decke über das Land breitet.
Ich berichte nicht von allen meinen Wanderaktivitäten in diesem Blog, aber diese Bergwanderung war viel zu schön, um ungeschrieben zu bleiben.
Im Anstieg ca. 1075 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 19,5 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Totes Gebirge (Auswahl):
- Wandern am Rande einer Unbesonnenheit: Latschenkopf (1478 m) und Nojer (1492 m)
Latschenkopf (1478m), Nojer (1492m) - Schrocken mit Freunden
Schafkögel (1990m), Schrocken (2281m), Kaminspitz (2328m), Kreuzspitz (2333m), Hochmölbing (2341m) - Raidling West und Raidling Ost
Raidling Westgipfel (Wörschacher) (1912m), Raidling Ostgipfel (Liezener) (1909m) - Freundliche Augenbotschaften im Toten Gebirge: Schafberg 1932 m (Hintere Höh)
Schafberg (1932m) - (Fast) ein Munro im Schatten des Grimmings – Gindlhorn (4129 ft)
Nebenhorn (1160m), Gindlhorn (1259m), Leistenstein (1480m), Brandangerkogel (1508m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Hödl (2008): Wandererlebnis Totes Gebirge, Almen, Gipfelwege, Hütten. Residenz Verlag, St. Pölten.
Prell (1978): Totes Gebirge; e. Landschaftsbuch über d. Alpen zwischen Traun u. Steyr; mit Tourenvorschlägen für Bergsteiger u. Skiläufer. Oberösterreichischer Landesverlag, Linz.
Rabeder (2005): Totes Gebirge. AV Führer, Bergverlag Rother, München.
Reinisch/Pürcher (1992): Erlebnis Salzkammergut. Verlag Styria, Graz.
Ein Blogeintrag mit vielen Fotos findet sich auf Bergliste.at (abgerufen am 6.12.2015)
Auf diesen Beitrag in Paulis Tourenbuch möchte ich ebenso verweisen. (abgerufen am 6.12.2015)