Tattermann. Eine solch‘ zittrige Gipfelgestalt fehlt noch in meinem Tourenbuch. Nicht weit voneinander entfernt gibt es gleich zwei so benamste Berge in den Niederen Tauern. Der höhere Tattermann (2089 m) steht nördlich von Mößna. Bei meiner Mörsbachwanderung habe ich ihn fotografiert und seine Besteigung beschlossen. Reinhard und ich entscheiden uns heute aber für die Gratüberschreitung von der Schoberspitze (2126 m) zur Schaabspitze (1901 m) und wollen dabei den niedrigeren Tattermann (2047 m), den Hüttenkogel und den Brandlspitz überschreiten. Wenn es denn gelingt.
Wir parken unser Fahrzeug etwas oberhalb vom Perweiner. Der Schranken ist zwar geöffnet, aber wehe dem übermütigen Wanderer, der hier durchfährt. Denn am späten Nachmittag, wenn die Heimreise ansteht, sind solche Schranken meist verschlossen, und viel Mühe ist erforderlich, wieder heimzukommen. Das gilt für die drei jetzt an uns vorbeirauschenden, jägervollen SUVs natürlich nicht.
Wir wandern feuchtmoosgrüne Forststraßenabschnitte hoch.
Dann verplaudern wir uns wieder einmal, werden dabei unachtsam und queren einen Bach. Erst hunderte Meter weiter bemerken wir den Fehler. Wir haben den Pfad zur Michelirlingalm verloren, und dort wo wir sind, gehören wir nicht hin.
Wir drehen um und finden den unscheinbaren Steig, den wir hochsteigen wollen.
Das feuchtgrüne Gesicht der Landschaft ändert sich noch nicht. Es ist ein dunkles, sattes, altes Grün, dem die Leichtigkeit des jungen Frühlingsgrüns abhanden gekommen ist.
Kurz vor der Plotscher Alm mündet der Weg wieder in die Forststraße ein.
Über der Alm reckt und streckt sich unser heutiges Tagesziel im warmen Sonnenlicht. Einzigartige Terracottawiesen erwarten uns. Solch unwirkliches, leuchtend mildes Sandelholzbraun kenne ich nur von den Bergen in den Niederen Tauern.
Zuvor gelangen wir noch auf die Michelirlingalm (1718 m). Deren langer, eigenartiger Name erklärt sich ganz einfach: die Alm und der dazugehörige See wurden nach dem Michel Irlinger benannt.
Nochmals ein Blick auf den Kamm. Von rechts nach links: Schoberspitze (2126 m) Tattermann (2047 m), Hüttenkogel (ca.1940 m) und der Brandlspitz (1920 m). Die Schaabspitze (1901 m) ist nicht zu sehen.
Welche Genüsse erwarten uns auf diesen Bergen, wenn bereits eine einzelne Nougatpraline kuscheln im Mund ist und die nächsten Stunden durch ein weites vorwinterliches, nougatfarbenes Wunderland führen?
Im leichten Wind erschnuppern feine Nasen schon den nahen Schnee. Im Westen bevölkern Wolken den Himmel und nehmen uns den Blick auf die einsamen, stillen Berge über der Mörsbachhütte. Keine Brunftrufe sind mehr zu hören, die mühsame Hirscharbeit dürfte getan sein, und wenn sie gut getan wurde, sind jetzt viele Hirschmaiden trächtig.
Falb ist die Fellfarbe dieses Berglebewesens. Das ist eine vorzügliche Landschaft für Bären und Wölfe. Niemand würde sie in diesen Hängen sehen können.
Die sommermüden Wiesen blühen in der Herbstsonne noch einmal goldrot auf. In der blauen Ferne ist über dem Ennstal der kalkgraue Grimming zu sehen.
Nur wenn sich eine Wolke zwischen das Licht und die Wärme der Sonne schiebt, kühlt der Almboden in dieser Schattenlandschaft abrupt aus.
Wir wandern den guten Steig zur Karlscharte hoch.
Eine Wolke von Glücksgefühlen begleitet uns jetzt, und diese wirft keine Schatten auf unseren Weiterweg.
Im Weichzeichnerlicht dieses Tages gelangen wir…
…ohne Eile, mit wenig Müh‘ und geringer Plag’…
…zur Karlscharte.
Hier bieten sich Einblicke in den Plannerkessel und zur Planneralm. Selbstredend auch zum gegenüberliegenden Gratrücken entlang der Plannerstraße mit dem Höchststein (2183 m) und der Gstemmerspitze (2136 m).
Unter uns leuchten wie Lagunenaugen die Karlseen im sanften Sonnenlicht.
Über der Alm und dem kleinen See zieht der Kamm vom Hühnereck (2035 m) zum Plotscherkogel (1840 m). Wieder einmal kommt meine Gipfelvorratsdose zum Einsatz. Eine Wanderung über die Karlspitze, Schreinl, Hühnereck und Plotscherkogel ist eine sehr verlockende Angelegenheit.
Der Blick in den braun-bunten tiefen Raum des Plannerkessels und zu den Schipisten der Planneralm ist noch möglich. Eingewolkt kann ich den Hochrettelstein (2220 m) im Gratverlauf nur erahnen.
Von der Karlscharte sind es noch 140 Höhenmeter auf den höchsten Gipfel des heutigen Tages.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Schoberspitze (2126 m).
Im Südwesten dominieren die Wolken. Nur der Nordosten lässt sich ein wenig Fern-sehen.
Der Blick zurück zeigt die Karlscharte und den Weg zur Karlspitze (2097 m). Dahinter ragt das Schreinl (2154 m) auf.
Der Tattermann (2047 m) ist unser nächstes Ziel. (Bildmitte)
Ein letzter Blick zur Planneralm. Jetzt kann ich den Hochrettelstein (2220 m) sehen, und dahinter taucht sogar die Seekoppe (2150 m) auf. Die Berge südlich davon (Hochschwung u.a.) sind nicht gut zu erkennen.
Die ersten Meter von der Schoberspitze führen im steilen Grasgelände bergab.
Schafpfade erweisen sich als haltgebend und richtungsweisend. Der Rückblick zeigt die bald zurückgelegte Entfernung zur Schoberspitze.
Unwirklich reizvoll ist dieses Wandern über den müden, braungrauen Gratrücken.
Hier trennt uns die noch nicht berühmt-berüchtigte Tattermann-Diagonale vom Gipfel.
Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto ganz ohne Zittern am Tattermann (2047 m).
Der Weiterweg sieht sehr einladend aus und ermöglicht eindrucksvolle Tiefblicke auf den…
…Grünwaldkarboden. Rechts im Bild ist der Hundskogel und dahinter das Karhorneck (1828 m) zu sehen. Auch diese beiden landen in meiner Gipfelvorratsdose.
Immer noch auf Schafpfaden wandern wir die Hüttenkogel-Horizontale entlang.
Wenige Meter noch und wir befinden uns am…
…Hüttenkogel (ca. 1920 m).
Weit sind wir schon gekommen. Im Rückblick die Karlscharte, Schoberspitze und der Tattermann.
Die heiklen Stellen folgen jetzt, denn wir wollen so gut es geht am Grat bleiben. An diesem Felsen beginnt die durchzweifelte Stunde unserer Wanderung.
Hinter dem Felsen fällt das Gelände allüberall steil hinab. Für den ersten Moment schaut es nach einer wenig verheißungsvollen Lage aus. Aber, wenn man lange genug stehen bleibt, verliert sich das Gefühl der gefährlichen Höhe ein wenig, und darum getrauen wir uns nach ein paar Minuten doch abzuklettern. (Wer vom Fünfmeterturm springen will, stelle sich zuerst für zehn Minuten auf den Zehnmeterturm, um dann lachend über die geringe Höhe des nur halb so hohen Sprungturmes in die Tiefe zu hüpfen).
Rückblick aufs abgekletterte Gelände, aber ganz bewältigt ist dieser Abschnitt…
…noch nicht.
Auf Schafpfaden bewegen wir uns schon lange nicht mehr. Dann endlich werden wir unseres nächsten Gipfels ansichtig. Der Turm in der Mitte des Bildes ist der Brandlspitz (1920 m). Geschützt vor zudringlichen Besuchern ist er von einem undurchdringlichen Latschen-Fels-Gemisch der sehr unübersichtlichen Art.
Diese alpine Außenstelle der Hölle lässt sich nicht umgehen, und somit beschließen wir die Durchschreitung. Was würden wir jetzt nicht alles für ein Latschengassen-GPS-System geben! Es muss endlich erfunden werden. Latschologen braucht dieses Land. Latschen view statt street view. An einer besonders verflixten Stelle hätte ich sogar meine Haare am Rücken gegen solch ein Gerät getauscht.
In vielen Einzelduellen – Mann gegen Latsche – gelingt uns die Überwindung des Latschenlabyrinths. Das Klettern auf den felsigen Aufbau gleicht dagegen einer Wellnessanwendung.
Satisfaktion am Brandlspitz (ca. 1920 m).
Jetzt verbleibt uns nur noch die Schaabspitze (1901 m). Das Gipfelkreuz kann ich schon erkennen.
Der soeben durchstiegene Latschen-Sechser und dahinter der Tattermann.
Gegenüber im milden Nachmittagslicht: Karhorneck (1828 m) und Hundskogel.
Steile, bunte Rinnen reichen bis in den Talboden.
Der Weg zur Schaabspitze führt wieder über unschwieriges, feines, steindurchsetztes Grasgelände.
Done! Obligatorisch und unverzichtbar: Gipfelfoto Schaabspitze (1901 m).
Unser Tagwerk kann sich sehen lassen: Von der Schoberspitze (gerade noch zu sehen) über den Tattermann (sieht mächtig aus) den Hüttenkogel (am Grat), den Brandlspitz (Latschen-Sechser) bis zur Schaabspitze (auf der befinden wir uns jetzt).
Weil es nichts gibt, was es nicht gibt, bereichert seit 2006 die bizarre Szene der Gipfelmosher (Headbangen auf Bergen) die alpine Landschaft. Weil aber heftiges Kopfschütteln keine Faszien und Beinmuskeln dehnt, bleiben Reinhard und ich beim bewährten Gipfelstretchen. Im milden Licht, hoch über dem Ennstal, dehnen sich gleichzeitig unsere Seelen weit über die umgebenden Bergmassive hinweg.
Die verbliebene Tageshelligkeit erlaubt uns nur noch eine kurze Rast. Ein mühsamer direkter Abstieg zur Forststraße steht uns bevor. Die in der BEV-Karte eingezeichneten Jagdsteige sind entweder Träume des Kartographen, oder viel wahrscheinlicher, einfach wenig begangen und somit zugewachsen. Zumindest wir finden heute keinen davon.
Der Forststraßenrückweg zieht sich, und erst in tiefer Dunkelheit endet dieser fabelhafte Tag bei unserem Ausgangspunkt.
Im Anstieg ca. 1545 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 17 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Donnersbacher Tauern (Auswahl):
- Tourensupperl aus dem Plannerkessel: Karlspitze (2097 m) und Jochspitze (2037 m)
Karlspitze (2097m), Jochspitze (2037m) - Mein Jahresgipfel Mörsbachspitz (2020 m) mit vergiftetem Bonus
Mörsbachspitz (2020m), Stadelfirst (1940m) - Grüne Weltabsage im Mörsbachtal oder wie ich zum Stillekoster wurde
Großes Bärneck (2071m), Schwarzkarspitz (1996m), Sonntagskarspitz (1999m), Gstemmerzinken (1996m), Kleines Bärneck (2037m), Silberkarspitze (2050m) - Pipifein am Hochrettelstein (2220 m)
Hochrettelstein (2220m), Plannerseekarspitze (2072m), Hintere Gstemmerspitze (2090m) - G wie gewittrig oder G wie genussvoll oder einfach G wie Gumpeneck (2226 m)
Gumpeneck (2226m), Blockfeldspitz (1929m), Salzleck (1783m), Zinken (2042m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Auferbauer (2000): Bergtourenparadies Steiermark: Alle 2000er vom Dachstein bis zur Koralpe. Verlag Styria, Graz.
Auferbauer(2014): Niedere Tauern Ost mit Murauer Bergen und Turracher Höhe. Wanderführer. Bergverlag Rother, München.
Buchenauer (1987): Höhenwege in den Niederen Tauern. Verlag Bruckmann, München.
Buchenauer(1975): Verliebt in die Heimat. Leykam Verlag, Graz.
Hödl (2008): Bergerlebnis Wölzer, Rottenmanner, Triebener Tauern und Seckauer Alpen. Steirische Verlagsgesellschaft, Graz.
Holl (2005): Niedere Tauern. AV-Führer, Bergverlag Rother, München.
Pürcher (2000): Erlebnis Ennstal, Schladminger Tauern, die schönsten Wanderungen und Bergtouren. Verlag Styria, Graz.