Diesmal habe ich mir frei genommen, ohne noch eine kleine Kleinigkeit im Büro zu erledigen. Ich bin eindeutig lernfähig und tapse nicht noch einmal in die Bürofalle. Ein wunderbarer Tag steht in den Startlöchern. Weil ich mich wieder in der Gnade der Sorglosigkeit befinde, freue ich mich über den schnurrenden Motor meines Autos, den glückverkündenden Tachostand und den azurblauen wolkenfreien Himmel. Das wird ein feines Tourensüppchen, das ich mir im Plannerkessel köcheln werde. Glückstauben Menschen fehlt lediglich die Liebe zu den einfachen, runden Momenten – dabei sind die doch so zahlreich.
Auf der Fahrt über die Passstraße kann man die Zunahme der Schneehöhe gut beobachten. Von gar nix zu doch etwas. Ich bin fast alleine am großen Parkplatz auf ca. 1600 m. Über die asphaltierte Straße wandere ich hoch zum Kinderlift und den Beginn der Höhenloipe.
Hier treffe ich auf vier sportliche Gestalten mit schmalen Schultern. Erst deren angestaubten Haare und flache Hinterteile verraten mir das fortgeschrittene Alter. Ältliche Frauen verlieren die Taille und ältliche Männer den Hintern – irgendwie ist das so. Diese Herrenrunde befellt in gemächlicher Ruhe, ganz ohne Worte (man kennt sich schon lange), die Tourenschi. Wie alt sie tatsächlich sind, erfahre ich am Gipfel, und das lässt mich dann ganz schön staunen. Sie kommen aus Bad Goisern und machen diese Tour jedes Jahr.
Eine breite Spur zieht den markierten Sommerweg hoch. Viele tausende Abfahrtsspuren haben eine Piste hinterlassen. Nach einer ersten Steilstufe wird die Sonne lästig. Ich krame meine Kappe aus dem Rucksack.
Nach Überwindung einer zweiten Steilstufe breitet sich dieses wunderbare Kar vor mir aus. Den Horizont begrenzen rechts die Schoberspitze (2126 m) und links die stumpfe Karlspitze (2097 m).
Fast ohne Steigung führt mich die Spur in den Karboden.
Ich fühle mich ins Weiß gezogen, in den von der Sonne ausgeleuchteten Kessel der Planneralm.
Der Schnee ist die Winterhaut der Landschaft. Wie ein glitzerndes Silbertuch verdeckt er die Muskeln und Sehnen der Berge.
Blick zurück in den Plannerkessel.
Die Aufstiegsspur zur Goldbachscharte (Bildmitte) lasse ich links liegen.
Dann passiert mir ein blödes Malheur. Im sich aufsteilenden Hangbereich, kurz vor dem Erreichen des Bergrückens, rutscht mir der Talschi weg, und dabei fühle ich einen deftigen Schlag im Oberschenkel. Wie ein Dosenturm falle ich zusammen. Ist mir jetzt ein Muskel gerissen? Vorsichtig setzte ich mich hin. Die Schmerzen sind groß, aber noch nicht höllisch. Heben kann ich im ersten Schreck das Bein auch nicht mehr. Wenn mir übel wird, ist es eine ernsthafte Verletzung – das weiß ich aus Erfahrung. Wie ich so bewegungslos im Schnee liege, kommt mir der gehässige Singsang der Fußballfans im Stadion in den Sinn, wenn ein verletzter Spieler am Rasen liegt: „Hub-, Hub,- Hubschraubereinsatz, Hub-, Hub-, Hubschraubereinsatz, Hub-, Hub-, Hubschraubereinsatz…“
Vorsichtig richte ich mich auf und taste mich langsam an eine Belastung heran. Geht irgendwie doch, obwohl ich das Bein nicht wirklich anheben kann. Hoffentlich krampft der Oberschenkel nicht, das wäre im steilen Hang mit den Skiern am Fuß gar nicht auszuhalten.
In großer Unbeholfenheit schmerze ich mich bis in die Scharte hoch. Ich ziehe die Schi aus und versuche vorsichtig einfache Lockerungsübungen. Im Oberschenkel sitzt ein dunkler, dumpfer Schmerz. Vielleicht doch nur eine gewaltige Muskelzerrung, hofft es in mir. Soll ich gleich abfahren? Schauen wie’s geht? Geht’s nicht, muss ich auf den Hubschrauber warten. Aber ich bin so knapp an der Karlspitze. Gipfelbegehren, Wunsch und Wille treiben mich jetzt an. Wenn ich da hinauf komme, komme ich auch ohne Hubschrauber wieder ins Tal, denke ich mir. Und das stimmt dann auch.
Das Schreinl (2154 m) wird mich heute nicht mehr sehen, das würde meiner Unvernunft die Krone aufsetzen.
Der Ostkamm mit der Jochspitze (2037 m).
Unter mir ist der zugefrorene Goldbachsee (1890 m) gut zu erahnen, und die Spur aufs Schreinl ist gut zu sehen.
Die jetzt für mich zuständige Schispur bleibt unter der Goldbachseespitze (2062 m), selbst die wenigen Höhenmeter da hinauf lasse ich bleiben. Mit dem dunkelschwarzen Schmerz im Oberschenkel zieht sich…
…der Weg ein wenig. Der Anblick des schneefreien Gipfelaufbaus lässt mich aufschauen und hoffen.
Die Schi lasse ich im Schnee liegen, und die letzten trockenen felsigen Meter steige ich mühsam hoch. Das linke Bein lässt sich nicht abwinkeln und hängt einigermaßen lustlos an mir. Wie ein widerspenstiges Kind schleife ich es einfach mit.
Diesmal schon fast pathologisch zwänglerisch und darum noch befreiender: Gipfelfoto Karlspitze (2097 m).
Unter einem völlig leergeräumten Himmel verweile ich lange am Gipfel.
Für den Übergang zum Schreinl hätte ich die Schi mit auf den Gipfel tragen müssen. Nach einem kurzen Abstieg würde mich der Weg über diesen langen Gratarm auf den Gipfel führen. Jetzt bin ich schon froh, hier zu sitzen. Ich massiere mir den Oberschenkel, schüttle das ganze Bein und rede ihm gut zu.
Nach einer Stunde kommen die alten Herren auf den Gipfel. Der älteste ist 87, die anderen ein wenig jünger, und nur einen Jungspund haben sie dabei – der ist erst 67! Die sonnenverbrannten Gesichter erinnern mich an meinen bergverliebten Vater. Seine Todesstunde vor acht Tagen rückt mir ganz mächtig ins Bewusstsein und benetzt mir die Augen.
Zu meiner eigenen Überraschung kann ich den fragenden Herrschaften viele Berge in der näheren und weiteren Umgebung benennen. Wie zum Beispiel die erst im Vorjahr von mir besuchten:
Oder die ganz nahe anschließende Gipfelkette mit der Schoberspitze (2126 m). Erst 2014 habe ich sie mit Reinhard bis zur Schaabspitze (1901 m) überschritten.
Gegenüber fehlen mir noch viele Gipfel. Allerdings war die Wanderung mit Gabi, vom Hochrettelstein (2220 m) bis zur Hinteren Gstemmerspitze (2104 m), ein feines Erlebnis.
Im Westen zeigen sich die Schladminger Tauern, vom Knallstein (2378 m) bis zur Hochwildstelle (2747 m) und noch viel mehr.
Mit dem Zoom gelingt mir sogar der Blick zum Hausberg der alten Herren, auf ihn machen sie mich aufmerksam: den Schafberg (1783 m).
Man kann einen seligen, seligsten Tag haben, ohne etwas anderes dazu zu gebrauchen, als blauen Himmel und Schnee (angelehnt an Jean Paul).
Wieder einmal lasse ich mir von einem wunderbaren beschrifteten Panorama unter die Arme greifen. Einfach ins Bild klicken.
Nach einer kleinen Ewigkeit am Gipfel befasse ich mich jetzt doch mit dem Abstieg. Ich massiere, klopfe und lockere vorsichtig meinen Oberschenkel, und er fühlt sich besser an, als noch vor zwei Stunden. Und weil ich ein Wundergläubiger bin, könnte ich ja noch vielleicht, unter Umständen, wenns nicht so sehr schmerzt, keine Blähungen dazu kommen, wenn das Wetter hält, die Jochspitze versuchen.
Weil die Bewegung keine Schmerzattacken auslöst, gelingt der Abstieg gut und das Zurückrutschen ebenso. Nur das Heben des Oberschenkels quält mich ordentlich.
Somit wandere ich, vom Schmerz aufgedreht, den Grat entlang zur Jochspitze weiter.
Ich kann mich nicht daran hindern, aufs versäumte Schreinl zurückzublicken.
Nur bei der Überwindung dieses kleinen Felsmugels (Bildvordergrund) steige ich aus der Schibindung. Ganz hinten ist die soeben erst von mir verlassene Karlspitze zu sehen.
Ich erreiche die Goldbachscharte (1960 m)…
…und habe nicht mehr weit auf die Jochspitze.
Die nachmittagsmilde Sonne zieht…
…schmale Duftfäden aus den angewärmten schneebefreiten Flecken.
Hier duftet es bereits nach Niederen Tauern, nach Frühling und Sommer, nach stundenlangen Wanderungen und einsamen Bergglück. Wie sehr freue ich mich schon auf diese Tage.
Nach dem bisherigen Verlauf der Tour völlig unverhofft und darum noch obligatorischer und noch unverzichtbarer: Gipfelfoto Jochspitze (2037 m).
Den Weiterweg zur Gläserkoppe und Rotbühel lasse ich bei diesem Anblick bleiben.
Jahreszeitlich nicht ganz angepasst, den Schnee kann man sich ja dazu denken, zeigt dieses beschriftete Panorama von Gerhard Eidenberger die ganze Aussichtspracht dieses unscheinbaren Gipfels. Einfach ins Bild klicken.
Ich ziehe heute erstmals die Felle von den Schiern und steige vorsichtig über die schneefreien, braungrünen Duftpölster ab. Ein letzter Blick zurück zu Karlspitze und Schober.
Meine Abfahrt aus der Goldbachscharte zurück in den Plannerkessel…
…kann man jetzt nicht gerade eine Sternstunde des Schisports nennen, aber ich gelange ohne weitere Beschädigungen unten an. Und weil ich mich auf eine längere Marokkoreise einlese, fällt mir nicht ganz unpassend dieser Ausspruch eines marokkanischen Talebs ein:
„Ich habe nicht gesucht und ich habe meinen Körper ermüdet, auf das meine Seele leichter würde“.
(Isabelle Eberhard „Sandmeere“)
Im Anstieg ca. 610 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 7,9 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Donnersbacher Tauern, Niedere Tauern (Auswahl):
- Schober (2133 m), Spiegelsee und das Badezimmer des Grauens
Gasselhöhe (2001m), Rippetegg (2126m), Schober (2133m) - Schitour auf den Preber
Preber (2740m) - Entdeckerfreuden am Sonntagskogel
Sonntagskogel (2229m), Schellberg (1672m) - Hochwildstelle
Hochwildstelle (2747m) - Die Trinität und der Triebenkogel, der leider kein Dreitausender ist
Triebenkogel (2055m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Die Bildbeschriftung erfolgte mit: PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Version: 1.0.3 © Christian Dellwo.