Immer, wenn die höheren Gipfel noch dem Schnee gehören, aber eine Etage drunter die Ameisenhaufen bereits das große Kribbeln bekommen und in der Frühlingssonne die Wohlgerüche der angewärmten Äste und Fichtennadeln aufsteigen, ist für Reinhard und mich Holzberge-besteige-Zeit.
In der Hauptsaison stehen diese Berge im Schatten der nahen Kalkriesen. Doch auch sie haben ihre beste Zeit. Für den kleinen Namensbruder des Hochzinödls (2191 m), den Zinödlberg (1294 m), könnte diese beste Zeit allerdings das ganze Jahr sein, denke ich mir nach dieser Besteigung.
Wenn man im Auto durch St. Gallen fährt, verschwindet der Zinödlberg v o r den weißen Riesen der Buchsteingruppe. Man sieht ihn einfach nicht, weil die Augen auf die eleganten Schönheiten dahinter starren. Sehr begehrenswert sieht dieser bewaldete Mugel neben dem superschlanken Kleinen Buchstein auf den ersten Blick nicht aus. Ich denke über Berge aber ähnlich wie Marcel Proust über Frauen:
„Lassen wir die hübschen Frauen den Männern, die über keine Phantasie verfügen.“
Und darum will ich heute mit Reinhard den Zinödlberg besteigen.
Noch vor der Nusserbrücke, am Straßenrand, parken wir unser Auto.
Wir wandern die Straße hoch, denn erst ein Stück nach dem Zinödlbauern wird es für uns in die Botanik gehen. An dieser Selbstbedienungstankstelle der Katholischen Kirche vorbei,…
…noch nicht einmal auf Augenhöhe mit der Burg Gallenstein (631 m), genießen wir den warmen Tag.
Allerdings stören Gewehrschüsse unsere Aufstiegsruhe. Das ständige Geknalle ist irgendwie lästig und wir sind froh, nicht die Adressaten der Kugeln zu sein. Offenbar findet ein Wettbewerb statt, an der Erzherzog Johann Gedenkschiessstätte [sic.] St. Gallen, von deren Existenz ich bis zu diesem krachenden Zeitpunkt keine Ahnung hatte.
Großes Redebedürfnis meinerseits und der damit verbundene Achtsamkeitsmangel lässt uns die Abzweigung ins Gelände gleich einmal um einen ganzen Kilometer verfehlen. Geduckt, unter den verbalen Schlägen von Reinhard, suche ich den verfehlten Abzweiger und finde ihn auch. So ein Navigationsfehler lässt mich nie zu einem 1-a-Wanderer werden, ärgere ich mich. Wie schön wäre es doch, die heutige Titelüberschrift so zu schreiben:
1-a-Wanderer besteigen 1-a-Aussichtsberg.
Aber so geht das einfach nicht. Bestenfalls zum C-Wanderer reicht mein Talent.
Der Steig mündet nach kurzer Zeit wieder in eine Forststraße, und auf dieser bleiben wir dann auch, bis an deren Ende. Dieses Ende ist aber der Anfang einer großartigen Aussicht.
Und diese Aussicht malt mir jetzt ein Lächeln ins Gesicht.
Ganz nah ragt mit der Almmauer ( 1764 m) der westlichste Punkt der Buchsteingruppe neben dem seidig glänzenden Tamischbachturm (2035 m) auf.
Weiter geht’s von der Tieflimauer (1820 m) zum Kleinen Buchstein (1990 m).
Nur schwer können wir uns von diesem Anblick losreißen, um den in der Karte verzeichneten Jagdsteig zu suchen. Es gibt ihn einfach nicht mehr – aber wir brauchen ihn auch nicht wirklich. Weglos plagen wir uns…
…die wenigen Höhenmeter hoch zum Bergrücken.
Hier finden wir das in den Karten verzeichnete Steiglein. Aber es ist mehr ein Hauch eines Steigs, ein Schatten seines ehemaligen Selbst. Aber sobald dieser Schatten eines Steiges aus dem Wald führt, eröffnet sich die grandiose Aussicht in den Nordwesten.
Und unter der Aussicht liegt wie ins Tal gezuckert St. Gallen. Friedlich schaut’s hier aus.
Großes Maiereck (1764 m) – zum Greifen nah. Der Berg rechts daneben könnte der Wasserklotz (1505 m) sein.
Der Steig bleibt immer am Grat und führt über dünnhäutige Schneereste, die langsam zerfließen und mit ihren Wassern…
…die Blumen gießen.
Zerfließen kann ich auch. Kleine Schweißflecken beginnen auf meinem Kunstfaserleibchen zu blühen. Aus zarten Knospen werden rasch Sonnenblumen.
Noch einmal quert der Steig eine Forststraßenkehre, um kurz darauf…
…ins Almgelände zu führen.
Welcher der beiden bewaldeten Mugel vor uns den höchsten Punkt ausweist, wissen wir noch nicht, aber der Blick in den Osten zum Tamischbachturm…
…gänsehautet uns aufs Allerbeste. Doch diese Gipfelwiese kann noch mehr.
Wir steigen die letzten Wiesenmeter zur Jagdhütte und stolpern in diesen Anblick hinein. Wie ein steinener Götterfinger zeigt der Kleine Buchstein in den Himmel.
Wir wandern an der Hütte vorbei und biegen bei einem Jagdstand (in Gehrichtung links) zum höchsten Punkt.
Obwohl wenige Meter entfernt die Fototapete ausgerollt ist, posieren wir zuerst obligatorisch und unverzichtbar am Gipfel: Zinödlberg (1294 m) und erst danach…
…wenige Meter neben dem Gipfel.
Und der Rausch lässt nicht lange auf sich warten,…
…wir betrinken uns an der Aussicht und staunen über unseren Mut der vergangenen Jahre.
Phänomenal ist meine Besteigung des Admonter Reichensteins (2251 m). Den habe ich mit mehr Zweifel als Können erstiegen.
Unglaublich, dass wir durch diese lebensfeindliche Wand wirklich auf den Kleinen Buchstein (1990 m) geklettert sind, und ebenso unvorstellbar…
…ist die Besteigung des Großen Buchsteins (2224 m) über das Südwandband und der Abstieg über den Wengerweg, einen echten Furchtlehrmeister.
Auch die Tieflimauer (1820 m) habe ich halb verdurstet über den Teufelssteig besucht.
Wir wandern die wenigen Meter zur Hütte zurück, und dort betten wir unsere leicht angealterten Körper in den Windschatten der Hütte. Und wer die nächsten Bilder genau betrachtet, kann erkennen, wie psychisches Wohlergehen in physisches übergeht.
Wir trinken das klare Quellwasser, welches wir in unseren Bierflaschen heraufgetragen haben…
…und philosophieren wieder einmal über das Leben. Lautlos pirscht sich der Sonnenbrand über meine Arme in mein Gesicht, und wir gelangen zur selben Zeit zur selben Erkenntnis: dass das Gute auf der Welt, wenn überhaupt, das Schlechte nur ganz knapp überwiegt; dass es notwendig ist, der tollwütigen Gesellschaft immer wieder den Rücken zu kehren und sei es auch nur für Stunden; und dass es nicht gesund ist, sich an eine kranke Gesellschaft anzupassen. Gerührt von solcher Einsicht bleiben wir wortlos lange sitzen und befolgen eine Facebook Empfehlung der Stefanie Sprengnagel:
„In der Sonne liegen und aufs Weiterleben warten.“
Während ich bereits fotografiere, wartet Reinhard noch immer,…
…und immer weiter wartet er. Es gibt schlechtere Orte, um aufs Weiterleben zu warten.
Die Aussicht ist einfach fantastisch. Großes Maireck (1764 m) und der Große Leckerkogel (1742 m) daneben. Dahinter die Haller Mauern.
Die Voralm (1770 m) und daneben der Gamsstein (1774 m).
Wir haben ihn entdeckt – den Glamour der einfachen Dinge. Denn schöner als jede neonblinkende städtische Skyline, ist diese Hütte in ihrer ganzen Selbstgenügsamkeit.
Nicht der Gipfel, sondern diese Wiesenkuppe mit der Hütte drauf, ist der Hauptpreis auf dieser Bergtour.
Nach Stunden, nicht gefühlten Stunden, sondern tatsächlichen Stunden, machen wir uns an den Abstieg.
Vor der Hütte findet sich dieser Wegweiser. Unseren Rückweg (markiert) über den Schwarzsattel und danach zur Ahornkehre möchte ich als Anstiegsvariante empfehlen.
Nicht weit von der Jagdhütte zieht diese (nicht in den Karten verzeichnete) Forststraße hinab bis zu dieser…
…ebenso nirgends verzeichneten, aber dafür ausgeschilderten Abzweigung zum Gipfel.
Von der Forststraße geht es jetzt in den Wald hinein und auf einem…
… guten Steig…
…hinab zum Schwarzsattel (1078 m).
Anfangs werde ich nicht klug aus diesem Anblick, aber Reinhard der Auskennerfuchs mit seinem inwendigen Berggipfelerkennungsprogramm findet die richtige Antwort.
An dieser Forststraße ist neben der Aussicht vor allem auch…
…die Erlaubnis zur Befahrung mit dem Mountainbike interessant.
Schon erreichen wir die Stockingeralm (813 m). Vor Stunden haben wir im Anstieg nicht weit vor ihr umgedreht, um den Gratanstieg zu suchen.
Im milden Abendlicht gelangen wir wieder zur Burg und zum Auto. Mit einem Proust- Zitat habe ich diesen Blogeintrag eröffnet, und mit einem weiteren Zitat meines Lieblingsfranzosen möchte ich zur Nachwanderung dieser Tour oder überhaupt zum Selberwandern einladen:
„Ein einfaches Frühstückshörnchen, das wir selber essen, bereitet uns mehr Vergnügen, als alle Schnepfen, Junghasen und Steinhühner, die Ludwig XV. vorgesetzt bekam.“
Im Anstieg ca. 850 Hm und zurückgelegte Entfernung ca. 14,5 km.
Senf dazu? Sehr gerne!
Darf’s ein bisserl mehr sein?
Weitere Unternehmungen in der Region Ennstaler Alpen (Auswahl):
- Versteckt im Faltenwurf der Haller Mauern: Mühlauer Stadel (1541 m)
Mühlauer Stadel (1541m) - Spielkogel
Spielkogel (1731m) - Palastwächter am Gesäuseeingang: Himbeerstein (1222 m)
Himbeerstein (1222m), Stiegenkogel (1195m), Dürrnkogel (1034m), Hausmauer (1015m) - Unser Verschlafen und sein Kollateralnutzen: Einsame Tour auf den Grabnerstein (1847) & Jungfernscharte (1718 m)
Grabnerstein (1847m), Admonter Warte (1804m) - Forststraßen können auch Möglichmacher sein: Besuch am Haidach (1096 m)
Haidach (1096m)
Besonders Umtriebige können auch noch im Tourenbuch und der Gipfelliste stöbern oder auf der Tourenkarte herum strawanzen.
Meine Quellen:
Ausschnitt aus Karte 4309, Österreich digital.
ⒸKartografie: Kompass-Karten GmbH, Lizenz-Nr.8-0512-ILB.
Die Bildbeschriftung erfolgte mit:
PanoLab Beschriftungsprogramm für Panoramabilder Version: v 1.0.2 © 2007 Christian Dellwo.